Flutkatastrophe:Mississippi außer Kontrolle

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Mit ungeheurem Aufwand versuchen Ingenieure den Mississippi in seinem Flussbett zu halten - von Jahr zu Jahr wird es schwieriger.

Hanno Charisius

Tote Tiere, soweit das Auge reicht. In unheimlich regelmäßigen Abständen liegen Gürteltiere und Waschbären auf der Straße; manchmal auch ein Reh oder eine Schlange. Um den "roadkill" vom Asphalt zu räumen, hat im US-Bundesstaat Louisiana aber gerade niemand Zeit. Im Augenblick ist nur eine Frage wichtig: Wie viel Schaden hat die Flut des Mississippi hinterlassen?

Eigentlich steht der historische Bahnhof des Städtchens Vicksburg im US-Bundesstaat Mississippi an und nicht in dem gleichnamigen Fluss. Aber Mitte Mai floss der Strom ins Erdgeschoss des Gebäudes. Obwohl es derartige Flutkatastrophen eigentlich nur alle 500 Jahre geben sollte, war es zuletzt 1993 und 1927 zu ähnlichen Überschwemmungen gekommen. (Foto: AFP)

In weißen Pick-up-Trucks patrouillieren Deichwächter auf der Straße der toten Tiere. Ihre Sorge gilt den mit Wasser vollgesogenen Erdwällen, die kollabieren könnten, wenn der Druck der Fluten auf der Flussseite allmählich wieder abfällt. Mitleid mit den Kreaturen gibt es vielleicht später. Zuerst gilt es, den Strom zu bändigen.

Zum dritten Mal in weniger als hundert Jahren hatte sich im Frühsommer so viel Wasser im Mississippi gesammelt, wie es laut Statistik nur einmal in 500 Jahren passieren dürfte. 1927, 1993 und jetzt im Frühjahr 2011 - die Abstände werden kürzer. Die Experten streiten, ob es am Klimawandel liege, an den vielen bautechnischen Veränderungen, die der Mensch dem Fluss zugefügt hat, um ihn schiffbar zu machen, an der Intensivierung der Landwirtschaft oder an all dem zusammen plus einer Prise Pech: starker Regen über Wochen. Manche sagen, Gott habe es so gewollt.

3780 Kilometer legt das Wasser des Mississippi von seinem Ursprung im Norden Minnesotas zurück, bis es kurz hinter New Orleans im südlichen Louisiana den Golf von Mexiko erreicht. Zusammen mit seinen Zuflüssen, darunter dem mächtigen Missouri, bildet der Mississippi das viertlängste Flusssystem auf dem Planeten und entwässert 28Bundesstaaten oder gut 40 Prozent der US-Landfläche, Alaska nicht eingerechnet. Im Westen reicht das Einzugsgebiet bis zu den Rocky Mountains, im Osten an die Appalachen. Zwischen den beiden Gebirgen liegen fast zehntausend Kilometer schiffbarer Flüsse, die über den gemächlich mäandernden Mississippi untereinander verbunden sind. Er bildet die Hauptschlagader der US-Binnenwirtschaft.

Seit Mitte April schwoll der Fluss immer stärker an. An vielen Orten erreichte der Wasserstand neue Rekordwerte. Anfang Juni stand das Wasser in New Orleans nur noch zwei Handbreit unter der Deichkrone. In diesen Tagen hielt man in der Stadt den Atem an. Viele Viertel liegen unterhalb des Wasserspiegels, selbst wenn der Fluss Normalstand hat. Nur die stellenweise an die zehn Meter hohen Erdwälle und Flutmauern hielten den Fluss davon ab, halb Louisiana zu überfluten.

Dass er diesmal nicht hinübersprang in die tiefer gelegene Stadt, haben die Bewohner einem ausgeklügelten System von Schleusen und Fluttoren stromaufwärts zu verdanken, das vom "Army Corps of Engineers" kontrolliert wird, einer Einheit der US-Armee aus mehr als 30000 Zivilisten und ein paar hundert Soldaten. Im Unabhängigkeitskrieg wurde das Korps gegründet, um Verteidigungsanlagen gegen die Briten zu bauen. Heute kämpft die Ingenieurstruppe praktisch nur noch gegen die Natur.

Am 14. Mai entschied das Korps, einige der insgesamt 125 Fluttore am Überlauf von Morganza, etwa zweieinhalb Autostunden nordwestlich von New Orleans, zu öffnen und den Mississippi so in zwei Ströme zu zerteilen. Das war zuletzt vor 38 Jahren geschehen und wurde im Vorfeld lange diskutiert, weil zwar nicht mehr New Orleans oder das stromaufwärts gelegene Baton Rouge überflutet werden, dafür aber das westlich gelegene Atchafalaya-Becken. Mehr als 25000 Menschen mussten aus der Region evakuiert werden, bevor das erste zehn Tonnen schwere Tor hydraulisch aus dem Wasser gehoben wurde; zunächst nur ein Tor, um den in der Senke lebenden Tieren eine Chance zu lassen, sich auf höheres Gelände zurückzuziehen.

Der Mississippi gehört zu den längsten Flüssen der Erde. (Foto: N/A)

In den folgenden Tagen verschluckte das Wasser ganze Städte. In manchen Orten floss es fünf Meter hoch durch die Straßen. Glimpflich davon kamen nur diejenigen, die eine Versicherung gegen die Flut abgeschlossen hatten. Die anderen schichteten Sandsäcke um ihr Haus auf; manche resignierten und verzurrten die wichtigsten Habseligkeiten auf dem Truck und flohen. Millionen Hektar Ackerland verschwanden unter dem langsam steigenden Wasser.

Hätte der Mensch den Mississippi seinen Weg zum Meer selbst wählen lassen, würde der Fluss wahrscheinlich bereits seit einem Jahrhundert durch diese Senke im südlichen Louisiana strömen. Von der Hochwasserkontrollstelle bei Morganza sind es nur etwa 200 Kilometer Luftlinie zum Ozean. Durch sein angestammtes Bett ist es fast doppelt so weit. Eine kürzere Strecke bei gleichem Höhenunterschied aber bedeutet eine steilere und schnellere Rinne für den Fluss, was er natürlich bevorzugen würde. Nur vier Wehre halten den Mississippi mühsam in seinem jetzigen, dem alten Lauf. Hydrologisch gesehen haben die Ingenieure hier die Zeit angehalten.

Aber der Mensch kann den Fluss nicht einfach ziehen lassen, weil er ihn als Verkehrsweg braucht. Zwischen Baton Rouge und New Orleans hat sich so viel Industrie an den Ufern angesiedelt, dass dieser Flussabschnitt auch als die amerikanische Ruhr bezeichnet wird. Allein die zehn Raffinerien dort am Fluss liefern 14 Prozent des Treibstoffs der USA. Würden sie zerstört oder vom Fluss abgeschnitten, hätte dies Folgen für die gesamte Nation.

Zum Schutz dieser Strukturen habe das Flut-Kontroll-System des Ingenieurkorps "bemerkenswert gut funktioniert", sagt Craig Colten, Geographieprofessor von der Louisiana State University in Baton Rouge und ein Experte für die Geschichte des Flusses. Doch könne es in den kommenden Jahren durchaus noch größere Fluten geben, die die Kapazität des bestehenden Systems übersteigen. "Wenn das passiert, haben wir ein Riesenproblem." Würden die Wehre nachgeben, könnte der alte Lauf des Mississippi rasch verlanden, und das gesamte Deichsystem von Süd-Louisiana müsste neu entworfen werden. Die neue Mississippimündung würde fast 200 Kilometer westlich von der alten liegen. Von Städten im Atchafalaya-Becken wie Morgan City würde wenig übrigbleiben.

Dabei liegt es in der Natur des Mississippi, seine Richtung immer wieder zu ändern. Wären nicht das Ingenieurkorps und die Deiche, würde er sich immer neue Wege in die Landschaft schneiden, an anderen Stellen aber durch Sedimentablagerungen verlanden. Im Jahr 1944 machte sich der Kartograph Harold Fisk daran, in eine Karte das aktuelle Bett des Flusses sowie die Verläufe aus den vergangenen Jahrzehnten einzutragen, soweit er sie rekonstruieren konnte. Heraus kam ein wundersames Geflecht von Geisterflüssen, das zeigt, wie lebendig der Strom einmal war.

"Über die vergangenen 7000 Jahre hinweg ist die Flussmündung einmal entlang der Küste des heutigen Louisianas gewandert", erklärt Colten. Durch das Sediment, das der Fluss über Jahrtausende meerwärts transportiert hat, ist ein großer Teil dieses Landstrichs überhaupt erst entstanden - der Staat besteht aus angespültem Boden aus halb Nordamerika. Aber nachdem der Mississippi seinen Lauf zum letzten Mal verändert hat, begannen Europäer Anfang des 18. Jahrhunderts an seiner Mündung zu siedeln. Seitdem hindern Menschen ihn daran, sich ein neues Bett zu suchen. Heute gibt es praktisch keinen Abschnitt, der nicht durch Deiche kontrolliert wird. Und genau darin erkennt der Geologe und Flussbauexperte Nicholas Pinter von der Southern Illinois University in Carbondale die Ursache der Probleme mit dem unzähmbaren Mississippi: "Das Flussbett ist so massiv von Menschenhand gestaltet, dass es die Fluten nicht mehr halten kann."

Ohne Deiche könnten sich die Wassermassen, die New Orleans in diesem Frühjahr gesehen hat, gar nicht ansammeln. Der Fluss würde zwar an vielen Stellen, aber mit weit harmloseren Folgen über das Ufer treten und ein paar Auen unter Wasser setzen. Pinters Untersuchungen haben gezeigt, dass mit den Deichen auch die Wasserstände im Fluss anwuchsen. Für einen Abschnitt im Mittellauf des Mississippi hat er berechnet, dass dem Fluss heute nur noch 40 Prozent jener Fläche zur Verfügung stehen, die er noch vor hundert Jahren hatte. Gegen das steigende Wasser im Fluss bauten die Amerikaner immer höhere Deiche. Sie stoppten ihr Tun auch dann nicht, als die Schifffahrtsstraßen bereits höher lagen als die asphaltierten Highways.

Auch das Flussbett haben die Ingenieuren so weit auf Schifffahrt getrimmt, dass manche Geologen den Mississippi heute eher als Kanal denn als Fluss bezeichnen. An vielen Stellen wurden die Schleifen des Flusses einfach durch Stichkanäle überbrückt, woraufhin sie binnen kurzer Zeit verlandeten. Auch europäische Flüsse wie der Rhein seien stark von Menschenhand geprägt, sagt Pinter, doch längst nicht mit der "technischen Hybris" der Mississippi-Ingenieure. Dies zeige sich am Ausmaß der Fluten: Jeder Versuch, den Mississippi weiter zu kontrollieren, führe dazu, dass er noch unkontrollierbarer wird.

Ein weiterer Faktor ist die industrielle Landwirtschaft. Je größer die Felder sind, desto mehr Wasser fließt durch ihre Furchen ab und sammelt sich in den Flüssen. Der ablaufende Regen schwemmt dabei jede Menge Dünger mit, der eigentlich Pflanzen nähren sollte. Don Scavia, Umweltplaner an der Universität von Michigan in Ann Arbor, hat ausgerechnet, dass Mitte Juni jeden Tag knapp 6000 Tonnen Stickstoff in den Golf von Mexiko gespült wurden, 35Prozent mehr als sonst üblich. Der Nährstoff werde das Algenwachstum im Meer stark stimulieren, sagt Scavia. Später im Jahr, wenn Bakterien die absterbenden Algen zersetzen, wird dieser Prozess dem Wasser so viel Sauerstoff entziehen, dass dort keine Fische, Krebse oder Muscheln mehr leben können. Scavia und viele seiner Kollegen sagen für den Spätsommer eine "tote Zone" von mindestens der Fläche Hessens im Golf von Mexiko voraus.

Seit einigen Wochen fällt das Wasser wieder. Meterhohe braune Ränder an Bäumen, Deichen und Häusern erinnern daran, wie hoch hier das Wasser noch vor kurzem stand. In der Luft liegt der Geruch von faulendem Gras und Unterholz und das aggressive Gesumme von Mückenschwärmen, die sich in schwarzen Wolken auf alles stürzen, was Blut in sich haben könnte. Die vom Feld gewaschenen Pflanzenschutzmittel gefährden noch immer Menschen, die entlang des Flusses leben. Schilder warnen Angler davor, ihre Beute zu essen, weil das Fleisch der Fische von den vielen Pestiziden im Wasser vergiftet ist. Viele Stromverteilerkästen entlang den Straßen und auch manche Häuser sind noch immer mit Sandsackburgen notdürftig vor Wasser geschützt. Oder ist das schon die Vorbereitung auf die nächste Flut?

Vielleicht bringt der Klimawandel Entspannung am Mississippi. Craig Colten skizziert zwei mögliche Szenarien: "Wenn das Klima wärmer und trockener wird, dann können wir mit der bestehenden Wasserkontrolle noch lange leben." Doch einige Klimamodelle prognostizieren eine Verschiebung der Niederschlagsmuster hin zu nassem Wetter im Osten des Mississippibeckens, "das würde das Gegenteil bewirken". Und Colten sieht eine weitere Bedrohung für die Deiche: fehlendes Geld. "Budgetkürzungen könnten das Schutzsystem schneller zerstören als die Folgen des Klimawandels."

Doch brechende Deiche ließen sich verhindern, sagt Nicholas Pinter - wenn es Geld für Umbauten gäbe, um dem Fluss an manchen Stellen wieder mehr Raum zu verschaffen. Und wenn die Bauern beginnen würden, ihre Felder so zu pflügen, dass sie mehr Wasser halten können. Das würde auch die tote Zone im Golf von Mexiko verkleinern. Außerdem fordert er weniger Optimierungen am Flussbett, wenige, aber weiter vom Wasserlauf entfernte Deiche und insgesamt ein "stärker von der Wissenschaft getriebenes Management des Flusses und seiner Auenlandschaften", so wie man es in Europa mache. Doch diese Einsicht setzt sich nur langsam in den Köpfen der Entscheider durch. Stattdessen entstehen immer neue Bebauungspläne in den natürlichen Überschwemmungsbereichen. Die dort entstehenden Häuser müssten dann bei der nächsten großen Flut verteidigt oder aufgegeben werden.

Ein Leben in Koexistenz mit einem ungezähmten Fluss scheint vielen Menschen hier noch undenkbar zu sein. In einem alten Werbefilm des Ingenieurkorps hört man den Sprecher sagen: "Die Nation hat einen mächtigen Feind. Wir bekämpfen Mutter Natur. Die Gesundheit unserer Wirtschaft hängt von unserem Sieg ab."

© SZ vom 16.07.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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