Ökologie:Europas Fische sterben einen Tod durch tausend Schnitte

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Watscha-Stausee in den westlichen Rhodopen in Bulgarien: In Südosteuropa sind zum Entsetzen von Umweltschützern Tausende neue Wasserkraftwerke geplant.

(Foto: Grigor Ivanov/imago images/Cavan Images)

Von der Quelle bis zur Mündung müssen Flüsse in Europa mehr als eine Million Hindernisse überwinden. Die Barrieren gefährden nicht nur Fische, sondern das gesamte Ökosystem.

Von Tim Kalvelage

Einst schwammen jährlich Hunderttausende Lachse den Rhein hinauf. Bis Überfischung und mit Chemikalien verseuchtes Wasser ihnen im 20. Jahrhundert den Garaus machten. Damit der Wanderfisch den Fluss zurückerobert, wurden dort inzwischen viele Millionen Junglachse ausgesetzt. Mit bislang mäßigem Erfolg. Nur vereinzelt erreichen die Fische, die ihr Leben überwiegend im Meer verbringen, heute ihre Laichgewässer am Oberlauf des Rheins und seinen Zuflüssen. Denn auch wenn das Wasser sauberer geworden ist, versperren etliche Stauwerke ihnen stromaufwärts den Weg dorthin und verhindern, dass eine stabile Lachspopulation entsteht.

Indem sie Fließgewässer zerschneiden, bedrohen menschliche Bauwerke nicht nur Fischbestände oder haben bereits zu deren Aussterben geführt. Sie beeinträchtigen auch die Wasserqualität und halten große Mengen an Sediment zurück. Das Ausmaß dieses Problems in Europa wurde jüngst in einem Artikel im Fachmagazin Nature beschrieben. Demnach stellen sich mindestens 1,2 Millionen Barrieren in den Lauf der europäischen Flüsse - im Schnitt eine pro 1,4 Kilometer.

Gut 60 Prozent der Barrieren waren in den bisherigen Übersichten nicht einmal erfasst

Im Rahmen der Studie, die das Zentrum für nachhaltige aquatische Forschung der Universität Swansea in Wales leitete, lief das Team um Barbara Belletti und Carlos Garcia de Leaniz an 147 Flüssen mehr als 2700 Kilometer ab und notierte alle Bauwerke quer zur Fließrichtung. Gut 60 Prozent davon fehlten in den existierenden, ohnehin nicht flächendeckenden Übersichten. Anschließend extrapolierten sie die Daten auf das europäische Flussnetzwerk. Die so ermittelte Zahl an Barrieren sei eine konservative Schätzung, da sie kleinere Quellflüsse nicht berücksichtige, so Wouter van de Bund vom Joint Research Centre der Europäischen Kommission, einer der Autoren der Studie.

Neben großen Staudämmen sind unter den 1,2 Millionen Hindernissen vor allem niedrige Wasserbauwerke wie Wehre und Schleusen oder solche, die eine Erosion des Flussbetts vermindern sollen. Mehr als zwei Drittel der Querbauten sind weniger als zwei Meter hoch. Auch wenn diese einzeln betrachtet einen weniger massiven Eingriff in Fließgewässer darstellen als riesige Wasserkraftwerke - in Summe bewirken sie den Forscherinnen und Forschern zufolge einen "Tod durch tausend Schnitte".

"Selbst Rohre, die Bäche unter einer Straße oder einem Feldweg hindurchleiten, bilden für viele Fische ein Hindernis", sagt Martin Pusch vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) in Berlin, der an der Studie mitwirkte. "Die trauen sich nicht, da durchzuschwimmen."

Deutschland belegt beim Hürdenlauf der Flüsse Europas nach der Schweiz und Spitzenreiter Niederlande Rang drei. Beinahe 225 000 Hindernisse unterbrechen hierzulande durchschnittlich alle 500 Meter die Wanderrouten von Lachs, Aal und Meerforelle. Etliche Flüsse und Bäche wurden in den vergangenen zwei Jahrhunderten aufgestaut oder begradigt. Etwa für eine effiziente Frachtschifffahrt oder im Zuge von Flurbereinigungen zur Steigerung der Nahrungsmittelproduktion.

"Wird ein Fluss begradigt und damit verkürzt, muss man Querbauwerke einziehen, weil Fließgeschwindigkeit und Gefälle zunehmen", erklärt Martin Pusch. Steinschüttungen beispielsweise verhindern, dass sich ein Gewässer immer tiefer in sein Bett eingräbt und die Ufer einstürzen. Nicht regulierte, ihrem natürlichen Lauf folgende Flüsse wie die Peene in Mecklenburg-Vorpommern sind in Deutschland kaum noch zu finden. Laut Umweltbundesamt ist die starke Verbauung vieler Gewässer - neben der Nährstoffbelastung durch die Landwirtschaft - Hauptursache für deren oftmals schlechten ökologischen Zustand.

Dämme und Schleusen verhindern den Sedimenttransport und fördern Erosion

Strukturen, die Flüsse zerschneiden, sind nicht nur für Wanderfische, die zwischen Süß- und Salzwasser pendeln, ein erhebliches Problem, sagt Martin Pusch: "Fische müssen zum Laichen stets flussaufwärts schwimmen, weil die Strömung ihre Larven in Richtung Mündung treibt." Durch Barrieren kann ihr Bestand im Oberlauf kollabieren. Flussabwärts besteht die Gefahr, dass Fische in Kraftwerksturbinen gehäckselt werden.

Ein weiterer Aspekt ist der Sedimenttransport: Sand- und Kiesbänke etwa, die leicht durchströmt werden, spielen eine wichtige Rolle bei der Selbstreinigung von Flüssen. Pusch bezeichnet sie als die "Leber der Fließgewässer." Wenn Querbauwerke den Materialnachschub zurückhalten, erodieren die Sandbänke, ebenso wie Mündungsgebiete oder Strände. Zudem führt aufgestautes Wasser häufig zu Algenblüten, Verschlammung und Sauerstoffmangel.

Verbaute Flüsse, die ihr Wasser schnurstracks ins Meer leiten, schwächen zuletzt auch die Robustheit der Wasserversorgung gegenüber dem Klimawandel. Ein ursprünglicher Fluss hingegen stellt sicher, dass in Dürrezeiten, wie sie Deutschland in jüngster Vergangenheit erlebte, die Grundwasservorräte ausreichend gefüllt sind.

Ökologie: Europas große Flusssysteme, hier farblich unterteilt nach Einzugsgebieten wie Donau, Rhein oder Elbe, werden von insgesamt 1,2 Millionen Barrieren durchtrennt.

Europas große Flusssysteme, hier farblich unterteilt nach Einzugsgebieten wie Donau, Rhein oder Elbe, werden von insgesamt 1,2 Millionen Barrieren durchtrennt.

(Foto: EEA, Copenhagen)

Es gibt also genügend Gründe, einige der Hürden abzubauen, vor allem solche, die ihren Zweck nicht mehr erfüllen oder besonders große Umweltschäden anrichten. Das ist auch ein Ziel der neuen EU-Biodiversitätsstrategie: Bis zum Jahr 2030 sollen Flüsse in Europa auf 25 000 Kilometern wieder frei fließen können. Potenzial für den Rückbau bieten insbesondere die vielen kleinen Querbauwerke, die sich mit überschaubarem Aufwand beseitigen ließen.

Ohne dass Länder wie Deutschland Flüsse barrierefreier gestalten, werden sie weiterhin die Europäische Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) nicht einhalten können. Diese schreibt für Gewässer einen mindestens guten chemischen und ökologischen Zustand vor. Derzeit genügt nicht einmal jeder zehnte hiesige Fluss den Kriterien.

Das liegt auch an einer gemeinhin als nachhaltig geltenden Art der Energieerzeugung: Rund 400 größere Kraftwerke erzeugen in Deutschland mehr als 80 Prozent des Stroms aus Wasserkraft. Der Rest entfällt auf 7300 Kleinwasserkraftwerke, die etwa 0,5 Prozent des gesamten Strombedarfs decken - angesichts von verschlammten Gewässern und unzähligen Fischen, die in Turbinen verenden, allerdings zu einem hohen Preis. Bei Kleinwasserkraftwerken stünden die Kosten für die Natur nach Aussage von Martin Pusch in keinem Verhältnis zu deren Nutzen.

Entsprechend besorgt sind Wissenschaftlerinnen wie Umweltschützer über Pläne, in bislang wenig verbauten Regionen Europas neue Staudämme zu errichten. Laut der aktuellen Studie findet man vor allem auf dem Balkan sowie in Teilen des Baltikums, Skandinaviens und Südeuropas noch weitgehend frei fließende Flüsse. Gerade auf dem Balkan sollen aber zum Entsetzen von Umweltschützern in den kommenden Jahren Tausende neue Wasserkraftwerke entstehen. "Selbst der Bau kleiner Staudämme kann hier schwerwiegende Folgen für die Umwelt haben", warnt Wouter van de Bund.

Auch auf anderen Kontinenten bedrohen sowohl bereits bestehende als auch geplante Wasserkraftwerke den Artenreichtum und die ökologische Integrität vieler Gewässer. Allein an Kongo, Mekong und Amazonas, deren Fische Millionen Menschen ernähren, sollen Hunderte neue Staudämme entstehen. Einer 2019 veröffentlichten Studie zufolge ist jeder zweite Fluss weltweit in seiner Durchlässigkeit beeinträchtigt. Von den größten Strömen der Erde schaffen es sogar mehr als drei Viertel nicht mehr ohne Unterbrechung ins Meer.

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