Bei jeder Mahlzeit die Feinkost vor Augen zu haben und sich dennoch mit drögem Alltagsessen begnügen zu müssen: Mit diesem Dilemma hat vermutlich niemand so viel Erfahrung wie Putzerfische. Doch hat diese beständige Herausforderung zur Selbstkontrolle eine bemerkenswerte Fähigkeit der Fische gefördert, wie Biologen um Mélisande Aellen von der Université de Neuchâtel im Fachmagazin Animal Behaviour schreiben. Demnach beherrschen Putzerfische den sogenannten Belohnungsaufschub weit besser, als man es bislang Tieren mit einem derart einfach gebauten Hirn zugetraut hat.
Belohnungsaufschub bezeichnet die Fähigkeit, auf eine sofort verfügbare Belohnung zu verzichten, um sich durch Warten etwas noch Besseres zu verdienen. Für menschliche Probanden sind solche Experimente als Marshmallow-Test bekannt. Doch auch viele Säugetiere wurden darin schon getestet, zum Teil mit sehr guten Ergebnissen. Menschenaffen, allen voran Schimpansen, andere Primaten, aber auch Ratten und Rabenvögel, beherrschen den Belohnungsaufschub gut. Am besten unter den Tieren schneiden Hunde ab, da der Mensch diese Fähigkeit im Rahmen der Domestikation gezielt gefördert hat.
Putzerlippfische dagegen sind schon in ihrer natürlichen Umgebung ständig gefordert, ihre Impulse beim Fressen zu zügeln. Die in Riffen lebenden Tiere haben eine sehr spezielle Ernährungsweise. Sie lassen sogenannte Klienten - andere Fische - vorbeikommen, denen sie Parasiten von der Haut knabbern. Das sättigt die Putzerfische zwar. Doch lieber würden sie ihren Klienten die viel schmackhafteren Haut- und Schleimfetzen wegbeißen. Dann aber würde sich der Klient betrogen fühlen - schließlich ist er zur Hautpflege gekommen und nicht, um sich Löcher in den Körper beißen zu lassen. Der Putzerfisch hätte dann zwar einmalig eine besonders leckere Mahlzeit erwischt, dafür aber eine Nahrungsquelle für die Zukunft verloren.
Lockte eine größere Portion, rührten die Fische das Futter nicht an
Wie es genau um die Fähigkeit zur Impulskontrolle steht, testeten die Forscher an 26 Blaustreifen-Putzerlippfischen. In einem Aquarium bekamen die Fische, getrennt durch eine durchsichtige Scheibe, eine besonders begehrte Mahlzeit präsentiert. Dann boten ihnen die Forscher auch eine weniger attraktive Belohnung an. Es wurde die Zeit gestoppt, die der Proband jeweils zu warten bereit war, bis er zu der Delikatesse vorgelassen wurde. Nach einer Trainingsphase schlugen sich die Fische dann ausgesprochen gut, wenn es bei der begehrten Belohnung um mehr Quantität ging: Lockte eine größere Portion, warteten die Tiere geduldig darauf und rührten das unmittelbar verfügbare Futter nicht an. Dafür war eines der Tiere sogar bereit, volle acht Minuten zu warten.
Damit ließe sich die Leistung der Putzerfische etwa mit denen von Schimpansen vergleichen, schreiben die Autoren. Ausgesprochen schlecht schnitten die Tiere dagegen ab, wenn sie sich durch Warten qualitativ besseres Futter verdienen sollten. Kaum ein Fisch war auch nur in Ansätzen dazu bereit.
Insgesamt bestärken die Ergebnisse ihrer Studie die Autoren darin, dass die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub stark durch die Lebens- und Ernährungsumstände der jeweiligen Tierart bestimmt wird. Die relative Gehirngröße und kognitive Leistungsfähigkeit sei dagegen weniger relevant als bislang angenommen. Allerdings lässt sich anhand der aktuellen Studie nicht erkennen, ob der Belohnungsaufschub bei den Fischen auf vergleichbaren oder aber weniger komplexen kognitiven Vorgängen beruht als bei Säugetieren.