Botox hätte sie märchenhaft reich machen können. Ihr Leben wäre vielleicht ganz anders verlaufen. Das kanadische Ärzte-Ehepaar Jean und Alastair Carruthers hätte seine Praxis dann nicht mehr in einem altmodischen Hochhaus an der Ladenstraße West Broadway in Vancouver, wirklich keine exklusive Adresse, sondern in irgendeinem Nobelviertel.
"Keine Goldfischlippen, starrenden Augen und hohlen Wangen": Die Botox-Erfinder Jean and Alastair Carruthers behandelten sich auch selbst damit - aber nur bis zu einem gewissen Grad.
(Foto: Foto: Carruthers)Schließlich war es die Augenärztin Jean Carruthers gewesen, die 1991 als Erste die faltenglättende Wirkung des Nervengifts Botox wissenschaftlich untersucht und beschrieben hat. Aber dann unterlief ihr eine verhängnisvolle Unterlassung. Deshalb gesteht die Kanadierin, dass sie und ihr Mann heute manches anders machen würden: "Als Erstes würden wir das Verfahren patentieren lassen."
Durch ihre Studien machten die Botox-Pioniere Jean und Alastair Carruthers die kosmetische Behandlung mit diesem Nervengift bekannt, das bis dahin als Heilmittel für Muskelkrämpfe eingesetzt worden war. Seither hat Botox - oder mit vollem Namen Botulinumtoxin - die Welt der Schönheitsmedizin und die nach Jugendlichkeit dürstenden Menschen erobert.
Aber die Carruthers entschieden sich damals, den von ihnen erforschten Anti-Falten-Effekt von Botox nicht patentieren zu lassen. Ein Anwalt in Toronto hatte dem Ehepaar davon abgeraten. Es gebe keinen Unterschied zur bereits bekannten medizinischen Therapie durch Botulinumtoxin, sagte er ihnen.
"Heute, da ich ein bisschen weiser geworden bin, würde ich weitere Experten fragen", sagt Jean Corruthers. Hätte sie es getan, dann würde man vielleicht in ihrer Praxis von glänzendem Marmor und Sicherheitsleuten empfangen. Nichts von alledem in der achten Etage am West Broadway, nicht einmal Standesdünkel herrscht dort. "Unsere Patienten sind ganz normale Menschen", sagt Jean Carruthers, und das behagt ihr auch.
Das kanadische Ärzte-Ehepaar, dank dessen Forschung Millionen von Menschen ein wenig jünger aussehen, führt das Interview in einem der Behandlungszimmer. Zu sehen sind: Eine weiß bezogene Pritsche längs der Wand und Flaschen mit Tinkturen auf einem Wagen - ganz so, als ob die Carruthers die Seriosität ihrer Tätigkeit unterstreichen wollten.
Jean und ihr Mann Alastair, der Hautarzt und früher Spezialist für Hautkrebs war, sind seit ihrer Botox-Offenbarung ganz in die Faltenbehandlung und Schönheitsmedizin abgewichen. Jean Carruthers beobachtete die faltenelimininierende Wirkung von Botox im Jahr 1987, als sie eine Patientin gegen unkontrollierbares Augenzucken behandelte.
Empfangsdame als Versuchskaninchen
In solchen Fällen wird stark verdünntes Botulinumtoxin injiziert, was die betroffenen Muskeln einige Monate lang lähmt und entspannt und das Lidzittern beseitigt. Die Patientin erzählte ihr, wenn man Botox in ihre Stirn spritze, verschwänden die Falten. Jean Carruthers berichtete diese Episode ihrem Mann während des Abendessens.
Doch die Bedeutung der Nachricht ging im Fütterungsritual mit den drei kleinen Kindern unter. Am nächsten Tag überredete Jean Carruthers die Empfangsdame in ihrer Praxis, als Versuchskaninchen hinzuhalten. Als Alastair deren faltenlose Stirn sah, wusste er gleich: "Das ist ein Sieger."
Es verstrichen dennoch einige Jahre, bis die wissenschaftliche Welt die neue Anwendungsmöglichkeit akzeptierte. "Anfänglich lachten alle und dachten, wir seien verrückt", erzählt Alastair Carruthers. Er und seine Frau brauchten vier Jahre, um eine Versuchsgruppe von Patienten zusammenzustellen.
Wer will sich schon mit dem tödlichsten Gift, das der Welt bekannt ist, injizieren lassen, wenn auch in so hochverdünnter Form und in winzigen Dosen, dass keine Gefahr für die Gesundheit besteht? Erst im Jahr 1993 begann der Siegeszug von Botox, als drei Hautärzte auf einem Kongress der American Academy of Dermatology erklärten, sie hätten Botox tatsächlich mit Erfolg gegen Falten angewandt.
Bald ließen sich die Berühmten und Reichen der Welt die Haut damit glätten. Das hätte für die Carruthers eine sprudelnde Geldquelle werden können. Oder ein Leben in Hollywood wäre möglich gewesen. Aber sie überließen das Patent der Öffentlichkeit, auch weil sie dachten, wissenschaftliche Erkenntnisse müssten Allgemeingut bleiben.
Sorgenfalten haben sich die beiden aber deswegen nicht zugelegt, und das nicht nur, weil sie sich nach eigenem Eingeständnis selbst mit Botox behandeln. Wer aber bei ihnen festgezurrte, ausdruckslose Gesichter erwartet hätte, sieht sich angenehm enttäuscht.
Die 61-jährige Jean Carruther, die heute auch Schönheitschirurgin ist, sieht deutlich jünger aus, vielleicht wegen ihrer Leidenschaft, mit der sie ihre Arbeit verteidigt. Ihre Augen wirken natürlich, und feine Querfältchen neben der Nasenwurzel geben ihr etwas Keckes. Zwischen Hals und Kinn wellt sich die Haut leicht.
"Es geht nicht darum, jünger zu wirken," sagt sie, "sondern frischer, entspannter, fröhlicher." Sie trägt eine graugemusterte Bluse mit Stehkragen und eine schwarze Hose.