Fall Semenya:Unbeschreiblich weiblich

"Im Fall von Caster Semenya wird leichtfertig ein Sportlerleben ruiniert", sagt eine Ethikerin. Denn es ist ein Irrglaube, die geschlechtliche Identität eines Menschen medizinisch sicher bestimmen zu können.

Werner Bartens

Der Sohn des Hermes und der Aphrodite war sehr schön, und die Nymphe Salmakis verliebte sich in ihn. Er wies sie zurück, aber als er einmal versehentlich in ihrer Quelle badete, zog sie ihn auf den Grund hinab und betete zu den Göttern, dass sie für immer vereint blieben. Ihre Körper verschmolzen daraufhin zu einem - mit weiblichen Brüsten und Rundungen, aber männlichen Genitalien. Nach diesem Geschöpf, dem Hermaphroditen, benennt die Wissenschaft Zwitterwesen, wobei sich in jüngster Zeit der Begriff Intersexualität immer stärker durchgesetzt hat.

Fall Semenya: Die 800-Meter-Weltmeisterin Caster Semenya muss sich einem Geschlechtertest unterziehen.

Die 800-Meter-Weltmeisterin Caster Semenya muss sich einem Geschlechtertest unterziehen.

(Foto: Foto: ddp)

Niemand hätte von diesem Wesen aus der griechischen Mythologie sagen können, ob es nun eher Mann oder Frau war. Eindeutig war nur, wie es zur Mehrdeutigkeit des Geschlechts kam: Man musste fortan lediglich in der ominösen Quelle baden, um zum Zwitterwesen zu werden. Im Gegensatz dazu kennt die moderne Medizin zahlreiche Ursachen für Veränderungen der geschlechtlichen Entwicklung.

Die Einflüsse und Störungen der Chromosomen und Hormone sind so vielfältig, dass sich in einigen Fällen beim besten Willen nicht medizinisch festlegen lässt, ob ein Mensch ein Mann oder eine Frau ist. "Manchmal ist die Bestimmung des Geschlechts eine willkürliche Festlegung im großen Kontinuum zwischen männlich und weiblich", sagt der Hormonexperte Martin Bidlingmaier von der Ludwig-Maximilians-Universität München. "Es gibt etliche Frauen, die nach wissenschaftlichen Kriterien eigentlich Männer sind."

Diese Aussage erfüllt Feministinnen vermutlich mit Genugtuung, denn schon früh plädierten sie für die Unterscheidung zwischen "Sex" und "Gender", also zwischen biologischem und sozialem Geschlecht. Dass die Wissenschaft mittlerweile erkannt hat, dass sie das biologische Geschlecht nicht immer eindeutig identifizieren kann, wirkt wie eine späte Pointe im Geschlechterkampf. Auf die Frage des Frauenverstehers Herbert Grönemeyer - "Wann ist ein Mann ein Mann?" - müsste man nicht, wie der Bochumer Sänger damals, mit Rollenklischees antworten, sondern entgegnen: dann, wenn er sich so fühlt.

Wenn Chromosomen in die Irre führen

Auch die Mediziner mussten erst mühsam lernen, dass sich das Geschlecht nicht so einfach bestimmen ließ, wie man sich das aus Freibadstudien vorstellt. Noch in den 1960er und 1970er Jahren machten es sich Ärzte und Sportfunktionäre allzu leicht: Da oft der Verdacht aufkam, dass die Ostblockstaaten in Frauenwettbewerben Männer antreten ließen, mussten sich die Athletinnen vorher nackt einem Gynäkologenteam zeigen. Weil der Augenschein manchmal trog und die Prozedur entwürdigend war, reichte zukünftig ein Abstrich der Wangenschleimhaut, um die Chromosomen zu bestimmt.

Doch auch die Chromosomen führen gelegentlich in die Irre. Es gibt seltene Ausprägungen der Hormonstörung Adrenogenitales Syndrom (AGS), bei der Menschen den weiblichen Chromosomensatz XX haben und Gebärmutter und Eierstöcke angelegt sind. Durch übermäßige Testosteronbildung wächst die Klitoris nahezu auf Penisgröße heran und kann auch teilweise versteifen.

Befunde, von denen man nichts wissen will

Die Vermännlichung zeigt sich in vermehrtem Haarwuchs und manchmal auch in stärker ausgeprägter Muskulatur. "Wenn die Gene weiblich sind, die Erscheinung aber männlich ist, muss man sich fragen, was die sexuelle Identität eines Menschen ausmacht", sagt Bidlingmaier. "Es kommt immer wieder vor, dass Menschen falsch getauft oder benannt worden sind." Liegt beim AGS der männliche Chromosomensatz XY vor, kommt es zu einer scheinbar verfrühten Pubertät mit starker Behaarung und vergrößertem Glied.

Andererseits gibt es auch Menschen, bei denen das Chromosomenpaar XY auf einen Mann hinweist, das Testosteron jedoch nicht am Zielort ankommt, sodass die äußere Erscheinung und die Geschlechtsidentität weiblich ist. Diese als Androgen-Insensitivity-Syndrom (AIS) bezeichnete Störung geht auf einen Defekt des Testosteron-Rezeptors zurück. Die Hoden entwickeln sich kaum und bleiben verkümmert im Körperinneren. Dafür sind Schamlippen und eine verkürzte Scheide vorhanden. Gebärmutter und Eierstöcke fehlen, Monatsblutung und Schwangerschaft sind daher unmöglich. Weil mit Eintritt der Pubertät keine Achsel- und Schambehaarung wächst, wurde die Störung früher auch als Hairless-Woman-Syndrom bezeichnet.

"Wenn die Faktoren nicht eindeutig in eine Richtung weisen, gibt es manchmal keine klaren und sicheren objektiven Kriterien für die Zuordnung als Mann oder als Frau", sagt Claudia Wiesemann von der Universität Göttingen. Die Medizinethikerin ist Expertin für Fragen der Intersexualität und Präsidentin der Akademie für Ethik in der Medizin. "Im Fall von Caster Semenya wird leichtfertig ein Sportlerleben ruiniert", sagt Wiesemann.

Die Ethikerin ist dafür, junge Sportler vor den Folgen einer weltweiten Stigmatisierung zu schützen. "Es gibt Befunde, von denen will man nichts wissen", sagt Wiesemann. "Ein Y-Chromosom im Test oder Unfruchtbarkeit können die weibliche Identität erschüttern."

Semenya sei ja erst 18 Jahre alt; in diesem Alter gilt man in manchen Ländern noch nicht als volljährig. Die 800-Meter-Läuferin Santhi Soundarajan hat versucht, sich das Leben zu nehmen, als ihr nach den Asienspielen 2006 die Medaille aberkannt wurde, weil sie ein Y-Chromosom hat - ein Befund, der unerheblich für den Sport und für die Geschlechtsmerkmale ist. "Im Sport müssen Regeln gelten", fordert Wiesemann. "Es muss vorher klar sein, wer darf antreten und wer wird disqualifiziert."

Das Geschlecht eines Menschen wird durch das Wechselspiel vieler Faktoren geprägt. Genetische, hormonelle, anatomische, psychische und soziale Faktoren haben Einfluss darauf. Die Bewegung der intersexuellen und der transsexuellen Menschen hat jahrzehntelang dafür gekämpft, in Wissenschaft und Gesellschaft anzuerkennen, dass in manchen Fällen eben keine eindeutige Geschlechtsbestimmung möglich ist. Als Reaktion darauf hat das Internationale Olympische Komitee seit 2000 alle Geschlechtstests bei Sportereignissen abgeschafft.

Die offizielle Regelung des Leichtathletikverbands IAAF zur Geschlechtsfrage (Policy on Gender Verification) spricht von einer Entscheidung "von Fall zu Fall" und einer "individuellen Einschätzung". "Das ist schwammig und wolkig und zeigt die Schwierigkeiten, Mann und Frau im Zweifel auf der Basis von Tests klar unterscheiden zu wollen", empört sich Ethikerin Wiesemann. "Das ist bitter und ein Rückfall der Experten, wenn sie jetzt so tun, als ob hier etwas eindeutig geklärt werden könnte."

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