Auch Daten der Sozialwissenschaftlerin Dagmar Schediwy widerlegen offenbar die Einschätzung der Politiker, das Auftreten der Fans spiegele Patriotismus wider. Die Berliner Forscherin hat während der Weltmeisterschaften 2006 und 2010 sowie bei der EM 2008 Anhänger der deutschen Nationalmannschaft auf den Fan-Meilen befragt. Die meisten genossen Schediwy zufolge, gemeinsam ein Gefühl der Zugehörigkeit zu Deutschland zu erleben und zu demonstrieren.
Motive der Fans waren auch ausdrücklich Vaterlandsliebe und Nationalstolz. Mit der Zeit, so stellt Schewidy in ihrer kürzlich als Buch veröffentlichten Studie fest, empfanden die Fans gerade den Nationalstolz zunehmend als natürlich. Nicht selten habe man ihr erklärt: "Wir leben in Deutschland. Da ist man stolz auf sein Land", sagte Schediwy auf dem Onlineportal Publikative.org der Amadeu-Antonio-Stiftung.
Demnach spielt der Bezug auf die Demokratie und die sozialen Errungenschaften in der deutschen Gesellschaft kaum eine Rolle für die Fans. Es geht vielen um den Partyspaß und den Sport - dafür aber bräuchte man keine Fahnen. Den meisten aber scheint es um das Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Identifikation mit einer Gruppe zu gehen, deren Mitglieder man an den nationalen Insignien erkennt.
Der Mitläufer-Effekt
Der "Party-Patriotismus" ist demnach nichts anders als Nationalismus, stellt Heitmeyer deshalb fest. Und Klaus Boehnke von der Jacobs University in Bremen hält sowieso nur wenig davon, Nationalismus und Patriotismus zu trennen. Das wäre lediglich aus wissenschaftlicher Perspektive sinnvoll, in der Öffentlichkeit dagegen nicht.
Natürlich könne man nicht allen Fans, die mit einer Fahne daherkommen, Nationalismus unterstellen, so die Forscher. Boehnke vermutet bei vielen einen Mitläufer-Effekt. Die sehen den Wirbel um sie herum, und wenn die DFB-Auswahl dann auch noch gewinnt, wollen sie auch dabei sein. "Dass sie dabei ein bestimmtes Konzept aufgreifen, ist ihnen vermutlich nicht bewusst", so Boehnke. "Die machen das hauptsächlich, weil es so schön ist, bei den Siegern zu sein."
Per se harmlos ist das jedoch nicht. "Die nehmen einen Trend mit, der auch von außen durch verharmlosende politische Äußerungen weiter gefördert wird", sagt Wagner. "Und dieser Gesamtprozess birgt über längere Zeit eine große Gefahr des Missbrauchs."
Über die Folgen, die es hat, wenn sich Menschen zu Gruppen zusammenschließen, wissen Sozialwissenschaftler genug, um sich über die Entwicklung in Deutschland Sorgen zu machen. "Politiker und manche Wissenschaftler vermuten, dass die Identifikation mit der eigenen Nation eine Voraussetzung dafür ist, dass eine Gesellschaft überhaupt funktioniert", erklärt Wagner. "Aber diese Identifikation bedeutet auch immer, dass man in einer gewissen Form die Landeszugehörigkeit in das eigene Selbstverständnis aufnimmt." Man ist nicht mehr nur ein Mensch, zufällig geboren in einem bestimmten Land. Man definiert sich selbst zu einem Teil über die Nationalität.
Um mit sich selbst zufrieden zu sein - die Wissenschaftler sprechen vom Streben nach einer positiven Selbstbewertung -, neigt man dazu, auch die Gruppe, der man angehört, positiv von anderen Gruppen abzusetzen. Dieses Phänomen ist gut untersucht. Als Gruppe kann man natürlich auch "die Deutschen" betrachten. Und da wird es heikel.
"Eine zu starke Identifikation mit dem eigenen Land birgt die Gefahr, dass sie in Nationalismus umschlägt", so Wagner. "Und das kann zur Ausgrenzung jener führen, die man selbst als nicht dazugehörig wahrnimmt." Je schärfer die Grenzen gezogen werden, und umso weniger kritische Positionen innerhalb der Gruppe existieren, desto größer ist die Gefahr.