Vor 55 Millionen Jahren waren Grönland und die Pole eisfrei. Palmen wuchsen bis hoch nach Alaska, große Teile Mitteleuropas und Asiens waren von tropischem Regenwald bedeckt. Europa schob sich gerade erst langsam weg vom nordamerikanischen Kontinent.
Die Erde glich einem Treibhaus mit hohen Kohlendioxid-Konzentrationen in der Atmosphäre. Die Dinosaurier waren seit mehr als zehn Millionen Jahren verschwunden und boten Platz für neue Arten und neue Konzepte der Evolution. Im Eozän, so nennen Forscher diese Epoche der Erdgeschichte, begann der explosionsartige Siegeszug der Säugetiere.
So auch im dichten Regenwald in der Nähe des Jangtse-Flusses. Ein kleines, nur sieben Zentimeter langes Tier mit doppelt so langem Schwanz kletterte damals nahe einem See, der heute in der chinesischen Provinz Hubei im Zentrum des Landes liegt, behände von Baum zu Baum und suchte sich Insekten als Nahrung. Bernhard Grzimek hätte das nur knapp 30 Gramm schwere Wesen mit den wachen Augen und den flinken Bewegungen sicher als possierliches Tierchen bezeichnet.
Ein internationales Forscherteam unter der Leitung des Paläoanthropologen Xijun Ni von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking präsentiert in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins Nature (Bd. 498, S. 60, 2013) die versteinerten Überreste dieses Tieres und ordnet es als weltweit "ältesten fossilen Primaten" ein. Etwas mehr als 55 Millionen Jahre alt sei das Tier, haben Gesteinsanalysen ergeben.
Der Fund gestattet den Wissenschaftlern einen Blick in den Laufstall der Primaten. Das Fossil selbst sei, so die Forscher, ein sehr früher Vertreter der Trockennasenaffen, gehöre also zu einer Linie, die bis zu den heute noch lebenden Koboldmakis führt. "Wir haben erstmals ein einigermaßen vollständiges Bild eines Primaten nahe der Abspaltung der modernen Affen, Menschenaffen und Menschen von den Trockennasenaffen", sagt Xijun Ni. "Dies ist ein großer Schritt voran in unseren Bemühungen, die frühesten Phasen der Evolution der Primaten und damit des Menschen zu verstehen."
Das ist das große Ziel - die Wurzeln des Menschen zu finden. Dabei beginnt die eigentliche Entwicklung hin zum Menschen erst sehr viel später, vor rund sieben Millionen Jahren. Noch sind wir im Eozän, in einem sehr frühen Stadium der Entwicklung der höheren Primaten, die letztlich erst 50 Millionen Jahre später zu den Menschen geführt hat. "In dieser Zeit geht es zunächst um die basale Aufspaltung in Feuchtnasenaffen und Trockennasenaffen, um den Ursprung der höheren Primaten, der so genannten Anthropoidea", erklärt der Paläontologe Jens Franzen vom Frankfurter Senckenberg-Museum. "Das macht dieses Fossil so spannend. Jeder Fund, vor allem jeder Skelettfund aus dem Eozän bringt die Wissenschaft weiter."
Bislang gab es aus dieser Zeit fast nur einzelne Zähne oder Kieferfragmente und als große Ausnahmen 47 Millionen Jahre alte Skelette namens Darwinius und Europolemur aus einem mittlerweile ausgestorbenen Seitenzweig im Stammbaum. Franzen und Kollegen haben ihre Ergebnisse zu Darwinius aus der Grube Messel in Hessen vor drei Jahren unter großer öffentlicher Anteilnahme veröffentlicht.
Den neuen Fund, eine bisher unbekannte Gattung und Art, nennen die Paläontologen Archicebus achilles, nach dem griechischen arche (Beginn oder erstmalig) und dem lateinischen cebus (Meerkatze). "Der Artenname achilles (nach dem Krieger der griechischen Mythologie) betont die ungewöhnliche Knöchelanatomie", so steht es zumindest in der Pressemitteilung der Forscher.
Entdeckt haben die Paläontologen das Fossil in versteinerten Ablagerungen eines längst ausgetrockneten Sees. Wie viele Fossilien aus Sedimentgestein tauchte das Skelett von Archicebus auf, als die Forscher eine dünne Steinplatte aus dem Sediment in zwei Teile spalteten. Beide Teile enthalten jeweils Stücke des tatsächlichen Skeletts wie auch Knochenabdrücke der anderen Hälfte.
Mehr als zehn Jahre lang untersuchten weltweit sechs Forschungsgruppen das Fossil, unter anderem an der Europäischen Synchrotronstrahlungsquelle ESRF im französischen Grenoble mit hochauflösenden Röntgengeräten. "Bei paläontologischen Proben sind wir immer an der inneren Anatomie interessiert", sagt Paul Tafforeau von der ESRF. Normalerweise kann man die Struktur eines Skeletts nur von außen beschreiben. Das Synchotron-Gerät kann Objekte bis zur Größe eines menschlichen Schädels am Stück untersuchen, mit einer enorm hohen Auflösung von bis zu einem Tausendstel Millimeter.
Die Röntgenstrahlen durchdrangen das winzige, zerbrechliche Skelett von Archicebus und zeichneten ein dreidimensionales Bild, ohne die Knochen zu zerstören. Damit lassen sich die verschiedenen Merkmale exakt studieren. Die Methode hat auch den Vorteil, dass man anschließend digital beide Hälften aus den dünnen Gesteinsschichten am Computer wiedervereinen kann.
Aus den vermessenen Details rekonstruieren die Forscher auch das Verhalten der Tiere. Zum Vergleich erfassen Forscher mit statistischen Methoden, wie Körperbau und Verhalten heute noch lebender Tiere korrespondieren. Das Verhältnis von Augenhöhlengröße und Schädelbasis hat sich beispielsweise als guter Maßstab dafür erwiesen, ob ein Tier tag- oder nachtaktiv ist. Bei Archicebus ergab sich eine eindeutige Aktivität am Tag.
Das Kauflächenmuster und die Form der Zähne wiederum zeigten, dass sich Archicebus von Insekten ernährt hat. Mit hochauflösenden Verfahren ist es je nach Erhaltungsgrad der Fossilien manchmal sogar möglich, direkt anhand der Abkauungsspuren auf die Nahrung rückzuschließen. "Darwinius ist so perfekt erhalten, dass wir sogar den Magen-Darminhalt analysieren konnten", sagt Jens Franzen. Das " Ida" getaufte Wesen fraß Blätter und Früchte.
Solche Glücksfälle sind selten, meist sind nur Knochen erhalten und nicht Weichteile oder Haarspitzen aus dem Fell wie bei Ida. In der Regel müssen die Paläontologen mühsam jedes Detail sammeln - um dann umso hitziger mit Kollegen über die korrekte Einordnung eines Fossils in den Stammbaum diskutieren zu können. "Wir sind im Eozän weit davon entfernt, einen stabilen Stammbaum zu haben", sagt der Anthropologe Thomas Geissmann von der Universität Zürich. Im aktuellen Nature weisen die Forscher darauf hin, dass Archicebus zwar auf der Linie der Trockennasenaffen liege, aber doch auch ein paar Eigenschaften wie die affenähnlichen Füße aufweise, die eigentlich den höheren Primaten zugerechnet werden.
Das ist der Kern der intensiven Diskussionen um die evolutionären Beziehungen zwischen höheren Primaten und ihren Verwandten. Bei Archicebus setzen die Forscher auf eine möglichst umfangreiche Erfassung der anatomischen Merkmale. "Um die verschiedenen Hypothesen zu testen und die phylogenetische Position des neuen Primaten festzulegen, haben wir eine umfangreiche Datenbank von mehr als 1000 anatomischen Merkmalen von 157 Säugetieren entwickelt", sagt Jin Meng, einer der an der neuen Studie beteiligten Forscher vom American Museum of Natural History.
Beeindruckende Zahlen zunächst. Doch Einteilungen in Stammbäume wirken bisweilen auch beliebig und schwer nachzuvollziehen. "Es gibt Hunderte anatomische Merkmale in einem Skelett, die man computergestützt erfassen und statistisch vergleichen kann", sagt Jens Franzen. "Daraus lassen sich zahllose Stammbäume generieren, aus denen man letztlich einen auswählen muss, meist wählen die Kollegen den einfachsten. Ich halte diese statistischen Methoden für nicht sehr sinnvoll, viel wichtiger sind doch die biologischen Funktionen."
Damit verweist der Paläontologe auf eine grundsätzlichere Frage: Auf welche Konzepte setzt die Evolution? Warum entwickelt ein Tier ein bestimmtes Merkmal? "Zu Beginn des Eozäns fanden die grundsätzlichen Weichenstellungen statt. Bei der Entwicklung hin zu den Feuchtnasenaffen hat der Geruchssinn eine große Rolle gespielt, hier war die feuchte Nasenspitze wichtig", sagt Franzen. "Bei den höheren Primaten stand der Gesichtssinn im Vordergrund."
Man müsse sich also, so Franzen, die jeweiligen Merkmale genau auf ihre Funktion hin anschauen. "Das fehlt mir in der Veröffentlichung. Ich finde es auch sehr schade, dass Darwinius aus der Grube Messel mit keinem Wort erwähnt wird. Ein Vergleich wäre doch sehr spannend, wenn man schon ganze Skelette zur Verfügung hat." Vielleicht hätte man so noch mehr darüber erfahren können, was in diesen tropischen Regenwäldern vor 55 Millionen Jahren passiert ist.