Süddeutsche Zeitung

Evolution:Forscher entwickeln neue Theorie zum weiblichen Orgasmus

Beim Sex muss der Mann zum Höhepunkt kommen, um Nachwuchs zu zeugen - Frauen aber können auch ohne schwanger werden. Welche Funktion hat der Orgasmus der Frau?

Von Felix Hütten

Der weibliche Orgasmus - seit Jahrzehnten ranken sich allerhand Theorien um die Frage, warum Frauen zum Höhepunkt kommen. Bislang ohne Ergebnis. Während bei Männern der Orgasmus meist zur Ejakulation führt, müssen Frauen keinen Höhepunkt haben, um Kinder zu bekommen. Warum aber gibt es dann überhaupt einen weiblichen Orgasmus? Ein Forscherteam der US-Eliteuniversität Yale und des Cincinnati Children's Hospital hat jetzt einen neuen Versuch gewagt, aus evolutionsbiologischer Sicht Antworten auf diese Frage zu finden.

Ihre These: Der weibliche Orgasmus hat bei den Vorgängern des Menschen vor Millionen Jahren den Eisprung ausgelöst und damit eine Schwangerschaft möglich gemacht. Die Forscher Mihaela Pavlicev und Günter Wagner vermuten, dass in der Entwicklung der Säugetiere zunächst der sogenannte männlich-induzierte Eisprung stand, der beim Geschlechtsakt geschieht. Daraus könnte sich vor etwa 75 Millionen Jahren dann ein vom Geschlechtspartner unabhängiger Zyklus entwickelt haben. Die Betonung liegt auf "könnte", denn bislang ist all dies reine Vermutung.

In ihrer Studie, erschienen im Fachjournal JEZ-Molecular and Developmental Evolution, haben die Wissenschaftler die Frage untersucht, wie der Eisprung bei anderen Säugetieren ausgelöst wird - und einst ausgelöst wurde. Bei Pferden zum Beispiel beeinflussen Licht und Temperatur maßgeblich den Sexualzyklus. Stuten können daher vor allem im Frühling und Sommer schwanger werden. Zusätzlich verfügen einige Tiere, wie zum Beispiel Katzen, über die Fähigkeit der induzierten Ovulation: Der Eisprung geschieht während des Geschlechtsaktes.

Ein Orgasmus wird unwahrscheinlich

Frauen aber haben den Eisprung - gesteuert durch ein Zusammenspiel verschiedener Hormone - in regelmäßigen Abständen, der Zeitpunkt ist kaum von äußeren Einflüssen abhängig.

Auffällig ist, dass der weibliche Körper beim Höhepunkt vermehrt Prolaktin und in geringeren Mengen Oxytocin ausstößt - zwei Hormone, die bei anderen Säugetieren den Zyklus beeinflussen, zum Beispiel bei Mäusen. Als Argument für ihre These führen die Forscher zudem eine Analyse der Entwicklung des weiblichen Genitals an. So gibt es Hinweise, dass die Klitoris bei Spezies mit regelmäßigem Eisprung im Laufe der Evolution von der Innenseite der Vagina nach außen gewandert ist.

Dadurch wird sie beim Geschlechtsverkehr seltener stimuliert, ein Orgasmus wird weniger wahrscheinlich. Um dennoch schwanger zu werden, musste - so argumentieren die Forscher - der Eisprung unabhängig von der Stimulation der Klitoris werden. Deshalb habe sich ein regelmäßiger, von Außeneinflüssen weitgehend unabhängiger Zyklus durchgesetzt. Unklar bleibt, ob die Wanderbewegung der Klitoris Folge oder Ursache eines regelmäßigen Eisprungs ist. Auch die Frage, welchen evolutionären Vorteil ein zyklischer gegenüber einem vom Sexpartner ausgelösten Eisprung hat, können die Forscher nicht beantworten.

Zahlreiche weitere Thesen ranken um den Orgasmus der Frau

Mit Blick auf frühe Säugetiere äußert die Studien-Autorin Mihaela Pavlicev die Vermutung, dass sich der Eisprung an veränderte Lebensumstände angepasst haben könnte. So zeigen beispielsweise Wildschweine eine induzierte Ovulation, während die eng verwandten Hausschweine einen regelmäßig-spontanen Eisprung haben.

Pavlicev sieht bei den ungeklärten Fragen weiteren Forschungsbedarf. Tatsächlich ist der weibliche Orgasmus noch immer ein wissenschaftliches Rätsel. Einige Theorien drehen sich um die Frage, ob der Orgasmus der Frau als Instrument zur Wahl des richtigen Partners dienen könnte. Ein Geschlechtspartner, mit dem eine Frau zum Höhepunkt kommt, so die Überlegung, eigne sich auch für die Familiengründung. Einige Forscher spekulieren, dass die Kontraktion der Beckenbodenmuskulatur während des Höhepunkts das männliche Sperma tiefer in den Genitaltrakt befördert und damit eine Befruchtung erleichtert. All diesen Theorien aber fehlt bislang ein empirischer Beleg.

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