Menschheitsgeschichte:Es war nicht alles schlecht in der Kaltzeit

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Der Homo heidelbergensis erlebte Warmzeiten, wie hier im Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart dargestellt, aber auch kältere Phasen, in denen große Teile Europas vergletschert waren. (Foto: Daniel Naupold/picture alliance / dpa)

Selbst als im mittleren Pleistozän Gletscher weite Teile Europas bedeckten, war der Kontinent offenbar weniger lebensfeindlich als gedacht. Das wirft ein neues Licht auf das Leben und Überleben der Neandertaler-Vorfahren.

Von Jakob Wetzel

Wie schnell die Kälte kam, ist heute schwer zu sagen. Aber sie kam, und sie trieb das Leben vor sich her. Gletscher rückten vor, bald bedeckte das Eis weite Teile des europäischen Kontinents. Viele Pflanzen gingen ein, Tiere verendeten oder machten sich aus dem Staub. Und auch die europäischen Urmenschen, die vor mehreren Hunderttausend Jahren auf dem Kontinent lebten, zogen nach Süden, wo es wärmer war. Doch allzu weite Strecken mussten sie dabei offenbar nicht auf sich nehmen: Berechnungen von Wissenschaftlern zufolge sind weite Teile Europas auch in den kältesten Phasen des mittleren Pleistozäns leidlich bewohnbar geblieben. Die damaligen Kaltzeiten des Eiszeitalters waren auf dem Kontinent demnach weniger lebensfeindlich als angenommen - und Europa war wohl von mehr archaischen Menschen bewohnt als gedacht.

Die jüngsten Hinweise darauf stammen von einem Team um den Biologen Jesús Rodríguez vom Evolutions-Forschungszentrum Cenieh im spanischen Burgos. Die Forscherinnen und Forscher untersuchten die klimatischen Bedingungen in Europa in dem Zeitabschnitt von vor 560 000 bis vor 360 000 Jahren. Sie identifizierten bewohnbare, also nicht zu kalte, zu trockene oder zu feuchte Gegenden, und ermittelten, wie viel Pflanzenwachstum das Land dort einst hervorbringen konnte. Die Ergebnisse verglichen sie mit den Bedürfnissen heutiger Jäger- und Sammler-Kulturen. Wie die Wissenschaftler nun in der Zeitschrift Scientific Reports berichten , gab es in Europa demnach überraschend stabile Lebensräume, und zwar nicht nur im äußersten Süden des Kontinents, sondern etwa auch auf dem Großteil der Fläche des heutigen Frankreich.

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Andere Wissenschaftler sind zuletzt zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Sie hatten die sogenannte letzte Kaltzeit mehrere Hunderttausend Jahre später untersucht. Finnische Forscher um den Geowissenschaftler Miikka Tallavaara von der Universität Helsinki etwa ermittelten, dass vor etwa 23 000 Jahren, als die Gletscher in Europa ihre letzte größte Ausdehnung erreichten, immerhin mehr als ein Drittel des Kontinents bewohnbar geblieben sei. Europa habe damals 130 000 Menschen einen Lebensraum geboten. Ein Forscher-Duo aus Colorado und Montreal stellte fest, dass es in jenem Zeitraum in Europa sechs große Lebensräume für Urmenschen gegeben habe, die von Südfrankreich bis zum Nordosten der iberischen Halbinsel reichten und miteinander verbunden waren. Dort hätten insgesamt vielleicht 100 000 Menschen gelebt.

Auch während der kältesten Phasen lebten Urmenschen zumindest im Sommer im heutigen Niedersachsen

Zu dieser Zeit war Europa bereits von anatomisch modernen Menschen der Art Homo sapiens besiedelt. Doch erst kürzlich fanden Wissenschaftler unter anderem des Leipziger Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie Belege dafür, dass sich auch Neandertaler offensichtlich sehr gut an kalte Bedingungen anpassen konnten. In Lichtenberg in Niedersachsen untersuchten sie einen Lagerplatz aus der Zeit von vor 70 000 Jahren. Und sie konnten nachweisen, dass Neandertaler dort auch während der kalten Phasen der letzten Eiszeit gejagt hatten. So weit im Norden lebten diese Urmenschen den Wissenschaftlern zufolge allerdings vor allem während der Sommermonate; die Eiszeitwinter verbrachten sie wohl in wärmeren Breiten.

Das Team um Rodríguez setzte nun mehrere Jahrhunderttausende früher an. Neandertaler gab es vor 560 000 Jahren noch nicht; Urmenschen-Fossilien aus jener Zeit in Europa ordnen Archäologen vielmehr der Art Homo heidelbergensis zu, einem Vorgänger der Neandertaler. Doch jener ließ nicht mehr allzu lange auf sich warten: Jüngere DNA-Analysen fanden erste Spuren des Neandertalers in etwa 400 000 Jahre alten Fossilien aus Nordspanien. Ein erster Homo sapiens ließ sich dagegen wohl erst vor 40 000 Jahren in Europa blicken.

Was zu Zeiten des Homo heidelbergensis geschah, interessiert Wissenschaftler auch, weil sie sich davon Aufschluss über die Evolution des Neandertalers erhoffen. Eine gängige Hypothese ist, dass die Urmenschen in den kältesten Phasen des mittleren Pleistozän vor allem noch auf der iberischen Halbinsel lebten, im heutigen Italien und auf dem Balkan. Dort seien sie jeweils jahrtausendelang voneinander isoliert gewesen. Ihr Genpool war also stark eingeschränkt; auf diese Weise hätten sich schließlich die Neandertaler entwickelt. Doch diese Vorstellung ist mit den Erkenntnissen der Forscher um Rodríguez kaum vereinbar. Vom übrigen Europa durch das Eis abgeschnitten gewesen sei allenfalls Italien, schreiben sie in ihrer Studie. Die übrigen Lebensräume waren miteinander verbunden. Und auch nördlich der Alpen gab es über lange Zeit hinweg mögliche Habitate für archaische Menschen.

Unklar ist indes, ob überall, wo Urmenschen hätten leben können, auch wirklich welche lebten. Die Forscher um Rodríguez beziffern die Zahl der archaischen Menschen in Europa in der damaligen Zeit auf zwischen 13 000 in kälteren Zeiten und 25 000 in wärmeren. Die Menschen hätten sich in vielleicht 500 bis 1000 Kleingruppen organisiert, und im Westen hätten mehr gelebt als im Osten. Ihre Schätzung sei zurückhaltend, betonen die Forscher. Doch ihre Zahl sei immer noch fünf bis zehn Mal so hoch wie bisherige Schätzungen. In jedem Fall wären die Vorfahren des Neandertalers damit zahlreich genug gewesen, um zu erklären, warum sie in den kältesten Phasen des Pleistozäns nicht ausgestorben sind.

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