EU-Kommissar Borg:"Große Schiffe sollten abgewrackt werden"

Bei der Ausbeutung der Meere spielt Europa eine unrühmliche Rolle. EU-Kommissar Borg über die Gründe und Fische, die nicht mehr auf die Teller kommen dürften.

Martin Kotynek

SZ: Wenn Sie ein Fisch wären, Herr Kommissar, würden Sie in einem Gewässer der Europäischen Union leben wollen?

EU-Kommissar Borg: Der für Fischerei zuständige EU-Kommissar Joe Borg fordert neue politische Vorgaben.

Der für Fischerei zuständige EU-Kommissar Joe Borg fordert neue politische Vorgaben.

(Foto: Foto: AFP)

Borg: Das wäre ein großes Wagnis. Neun von zehn Fischbeständen in Europa sind überfischt - ein Desaster. Daher wären die Chancen gering, dass ich lange lebe - geringer übrigens, als in vielen Gewässern außerhalb der EU.

SZ: Was würde Ihnen zustoßen?

Borg: Ich könnte zum Beispiel schon als junger Fisch gefangen werden. Das ist nach EU-Regeln verboten. Der Fischer müsste mich also gleich wieder über Bord werfen - überleben würde ich das jedoch nicht.

SZ: Warum haben Fische in Europa so ein gefährliches Leben?

Borg: Die Situation ist sehr ernst. Vor einiger Zeit dachte man noch, dass es endlos viel Fisch im Meer gäbe. Jahrelang wurde weltweit mehr Fisch gefangen, als wieder nachwachsen konnte. So laufen viele Fischgründe Gefahr, auf lange Zeit ausgeplündert zu werden. Sie würden sich, wenn überhaupt, nur nach Jahrzehnten erholen. Wenn wir nicht sehr genau aufpassen, könnte dies dem Kabeljau in der Nordsee und in Teilen der Ostsee passieren. Auch die Sardelle im Golf von Biskaya und der Rote Thunfisch im Mittelmeer sind akut bedroht.

SZ: Welchen Fisch kann man denn überhaupt noch ohne Bedenken essen?

Borg: Jeden, der nach ökologischen Kriterien gefangen oder gezüchtet wurde.

SZ: Das sieht man dem Fisch im Laden aber nicht an.

Borg: Es gibt schon einige Öko-Etiketten. Eines davon ist das blaue MSC-Siegel. Der Großteil der Fische ist allerdings nicht damit ausgezeichnet - nicht unbedingt, weil sie nicht ökologisch gefangen wurden, sondern weil es bislang noch kein geregeltes System der Öko-Kennzeichnung gibt. Vorgaben dafür entwickeln wir gerade auf EU-Ebene.

SZ: Wie also soll sich der Verbraucher derzeit orientieren?

Borg: Augenblicklich kann sich der Konsument nicht hundertprozentig sicher sein, dass der Fisch, den er kaufen möchte, nach ökologischen Kriterien gefangen wurde. Der Fang könnte vielleicht auch zur Überfischung beigetragen haben. Trotzdem braucht man nicht unbedingt ein schlechtes Gewissen haben, wenn man Fisch im Supermarkt oder am Fischmarkt kauft. Denn wir haben in den letzten Jahren schon zahlreiche Maßnahmen getroffen, um Überfischung zu erschweren.

SZ: Umweltschutzorganisationen veröffentlichen Ratgeber, in denen steht, welchen Fisch man nicht essen sollte. Soll man sich danach richten?

Borg: Solche Ratgeber, sofern sie seriös gemacht sind, haben sicher ihren Nutzen. Die EU-Kommission rät jedoch von keinem Fisch ab, der legal gefangen wurde.

SZ: Wie halten Sie es denn selbst mit Fisch?

Borg: Ich bin sehr wählerisch. Ich will ein gutes Gewissen haben beim Essen. Am liebsten esse ich Lampuki, das ist eine regionale Spezialität in meinem Heimatland Malta. Ich weiß, dass dieser Fisch bei uns zu Hause nur von wenigen Fischern auf schonende Weise gefangen werden darf. Auch Zuchtfisch, wie Forelle und Lachs, esse ich ohne Bedenken.

SZ: Essen Sie Kabeljau, dessen Bestände mancherorts durch die Überfischung kurz vor dem Zusammenbruch stehen?

Borg: Nein.

SZ: Warum nicht?

Borg: Erstens, weil er mir nicht schmeckt. Und zweitens ist die Lage der Dorschbestände regional sehr unterschiedlich. Einige Bestände mögen derzeit nicht in akuter Gefahr sein. Doch gelten zu Recht für fast alle Dorschbestände in der EU und auch im Nordatlantik strenge Befischungsregeln und zum Teil auch mehrjährige Wiederaufbaupläne. Ich möchte lieber keinen Fisch essen, der in vielen Meeresgebieten jahrelang überfischt wurde.

Fischer im Teufelskreis

SZ: Welche Fische sind das noch?

Borg: In der Nordsee der Kabeljau, Hering, Seehecht, Rochen und Dornhai. Im Golf von Biskaya Seezunge, in der Ostsee Dorsch, in der westlichen Ostsee Hering.

SZ: Alles bekannte Speisefische. Wie gesichert sind denn generell die wissenschaftlichen Daten über den Zustand von Fischbeständen?

Borg: Für fast 60 Prozent der Fischbestände liegen den Wissenschaftlern nur unzureichend gesicherte Daten vor. Die meisten Daten werden nicht von Forschern, sondern von Fischern gesammelt. Und diese Daten sind nicht immer präzise. Der Zustand solcher Fischbestände könnte schlechter sein als befürchtet.

SZ: Warum geht es den Fischen ausgerechnet in Europa so schlecht, wie auch Forscher aktuell im Fachjournal Science berichten?

Borg: Weil in Europa viel zu viele Fischerboote Jagd auf viel zu wenig Fisch machen. Für die meisten Fischbestände hätte die Fangflotte die Kapazität, doppelt bis dreimal so viel Fisch zu fangen, wie Forscher noch für vertretbar halten. Deshalb schränken wir den Fischfang ein, indem wir Quoten festlegen, wer wie viel von welchem Fisch fangen darf.

SZ: Offensichtlich können Quoten die dramatische Überfischung aber nicht verhindern. Was läuft schief?

Borg: Die Quoten werden traditionell nicht nach wissenschaftlichen Kriterien festgelegt. Über sie entscheidet jedes Jahr der Rat der EU-Fischereiminister. Dabei kommen dann natürlich politische Gesichtspunkte ins Spiel. Das Endergebnis ist, dass die Fangquoten im Durchschnitt um fast die Hälfte höher sind, als Wissenschaftler es für richtig halten.

SZ: Mit welchem Resultat?

Borg: Dass sich die Fischer in einen Teufelskreis begeben. Sie fischen mehr Tiere weg als nachkommen - der Bestand schrumpft, die Erträge der Fischer sinken. Also müssen sie mit immer größeren Anstrengungen versuchen, mehr Fisch zu fangen, damit sie profitabel arbeiten können. Dadurch gehen die Erträge im nächsten Jahr aber noch weiter zurück. Das geht seit Jahren so. Obwohl die Fischer mittlerweile einen enormen technischen Aufwand betreiben, erwirtschaften die meisten von ihnen Verluste. Es ist absurd: Trotz der enormen Befischung müssen wir bereits zwei Drittel des in Europa verzehrten Speisefisches aus dem Ausland importieren.

SZ: Das kann doch nicht im Interesse der Fischer sein - was zwingt sie dazu?

Borg: Nicht zuletzt der Umstand, dass sie auf dem Markt oft keinen vernünftigen Preis erzielen können. Die Preise ziehen nicht mit den Kosten mit. Steigen die Kosten eines Fischers, weil er etwa mehr Treibstoff braucht, um die immer entlegeneren Fischgründe anzusteuern, kann er diese nicht an den Konsumenten weitergeben. Es bleibt ihm also nichts anderes übrig, als noch mehr Fisch zu fangen, um auf seine Kosten zu kommen. Und das führt wiederum dazu, dass die EU-Mitgliedsstaaten für ihre Fischer immer wieder höhere Fangquoten fordern, als die Wissenschaft empfiehlt.

SZ: Hat Europa also einfach zu viele Fischer oder die falsche Fischereipolitik?

Borg: Leider beides. Einerseits muss die EU-Fischereipolitik reformiert werden. Und zwar nicht durch irgendein Reförmchen, sondern sie muss grundlegend umgekrempelt werden. Auch die Quotenregelung steht zur Disposition. Ich lade jeden Europäer ein, mir bis Ende des Jahres seine Ideen dazu zu schicken - bis zum Jahr 2013 sollten neue Regelungen europaweit in Kraft treten.

SZ: Und andererseits?

Borg: Andererseits wird zu viel gefischt. Weniger Fischereikapazität wäre durchaus im Interesse der Fischer. Denn wenn wir die Flotte nicht verkleinern, gibt es immer die Versuchung, mehr zu fischen, als erlaubt ist. Und dann geht Europa irgendwann der Fisch aus - und wir haben statt weniger Fischern gar keine Fischer mehr.

SZ: Wie wollen Sie die Fischer vom Fischen abbringen?

Borg: Es muss nicht unbedingt viel weniger Fischer geben, sondern wir können die Fischflotte auch durch das Abwracken von großen Schiffen verkleinern. Das würde die vielen kleinen Küstenfischer gar nicht betreffen. In manchen Fällen wird man allerdings nach alternativer Beschäftigung für die Fischer und ihre Familien Ausschau halten müssen.

SZ: Was passiert, wenn die Fischereiindustrie so weitermacht wie bisher?

Borg: Die Gefahr besteht, dass dann Europas Fischbestände irgendwann komplett ausgeplündert sein werden und die Fischerei in der EU Geschichte ist.

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