EU-Chemikalientests: Mehr Tierversuche:54 Millionen Opfertiere

Chemikalienverordnung mit Folgen: Toxikologen müssen wahrscheinlich sehr viel mehr Substanzen testen als erwartet. Die Zahl der notwendigen Versuchstiere steigt dadurch drastisch.

Christian Weber

Die Tierschützer waren von Anfang an skeptisch. Als am 1. Juni 2007 die europäische Chemikalienverordnung Reach (Registration, Evaluation, Authorization and Restriction of Chemicals) in Kraft trat, war klar, dass die mit ihr verbundenen Prüfverfahren zu einer starken Zunahme von Tierversuchen führen würden.

EU-Chemikalientests: Mehr Tierversuche: Statt der erwarteten 29.000 müssen nach neuen Schätzungen im schlimmsten Fall weit mehr als 100.000 Alt-Chemikalien getestet werden.

Statt der erwarteten 29.000 müssen nach neuen Schätzungen im schlimmsten Fall weit mehr als 100.000 Alt-Chemikalien getestet werden.

(Foto: Foto: dpa)

Doch die Zahlen, die jetzt die Toxikologen Thomas Hartung und Constanza Rovida von der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health in den aktuellen Ausgaben der Fachzeitschriften Nature und Altex veröffentlichten, werden auch manchem Zyniker die Sprache verschlagen.

Die Autoren schätzen, dass in den nächsten zehn Jahren 54 Millionen Wirbeltiere das Leben lassen müssen, 20-mal so viele wie erwartet. Der Grund sind toxikologische Tests, die für Reach notwendig sind. Auch die Kosten würden von 1,6 auf mindestens 9,5 Milliarden Euro steigen, heißt es in der Studie.

Chemikalien auf ihre Giftigkeit testen

Dabei hatte niemand etwas Böses im Sinn. Aus gesundheitlicher Sicht war es überfällig, dass in der EU alle Chemikalien auf ihre Giftigkeit getestet werden, die in Mengen von mehr als einer Tonne gehandelt werden und bereits vor 1981 auf dem Markt waren. Erst seitdem gibt es nämlich verbindliche Sicherheitsüberprüfungen vor der Vermarktung neuer Substanzen.

Doch jetzt tut sich womöglich ein massives Problem auf: Statt der erwarteten 29.000 müssen nach neuen Schätzungen im schlimmsten Fall weit mehr als 100.000 Alt-Chemikalien getestet werden; so viele Meldungen kamen aus der Industrie.

Allerdings ist bereits jetzt ein Streit unter Experten darüber ausgebrochen, wie belastbar diese Zahlen sind. Ihre Prognosen leiten die Autoren der jüngsten Studie aus dem bisherigen Anmeldeprozess ab. Bis Ende 2008 machten die Unternehmen 2,7 Millionen sogenannte Vorregistrierungen bei den Behörden, die sich auf 140.000 Chemikalien bezogen.

Fehl- und Doppelmeldungen vermutet

Die entscheidende Frage ist nun, wie viele Fehl- und Doppelmeldungen sich dahinter verbergen. Der Toxikologe Hartung glaubt, dass mindestens 68.000 Substanzen übrig bleiben werden, "und dabei befürchte ich noch, dass wir die Herausforderung unterschätzen".

Dagegen hält Christoph Schulte, Leiter des Fachgebiets Chemikalien beim Umweltbundesamt (UBA) in Dessau, diese Zahl nur für den "absoluten Worst Case". Die ursprünglichen Schätzungen seien realistischer: "Wir können die Angaben in Nature nicht nachvollziehen."

Auch über die Zahl der benötigten Tiere wird gestritten. Bei Hartung und Rovida ist sie vor allem deshalb so hoch, weil die Autoren davon ausgehen, dass die meisten Substanzen noch auf die sogenannte reproduktive Toxizität getestet werden müssen - also auf Schäden bei Schwangerschaft und Nachwuchs. Hier setzt Reach hohe Standards, weil dieses Risiko häufig an zwei Tierarten in jeweils zwei Generationen getestet werden muss. Dieses Verfahren kostet pro Substanz durchschnittlich 3200 Ratten das Leben.

UBA-Experte Schulte geht hingegen davon aus, dass viele Firmen riskante Stoffe bereits aus Eigeninitiative getestet haben, allein schon, um Schadenersatzprozessen vorzubeugen.

Wie auch immer die Rechnung am Ende ausfallen wird, schwarze Zahlen werden wohl übrig bleiben: Die Experten der Europäischen Kommission haben ausgerechnet, dass Reach den Gesundheitssystemen der EU dank sinkender Krankheitskosten in den nächsten 30 Jahren etwa 50 Milliarden Euro einsparen wird.

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