Süddeutsche Zeitung

Ethnologie:Die Mär vom edlen Wilden

Noch immer lebt der Mythos von den naturverbundenen, friedlichen Eingeborenen. Tatsächlich sind in indigenen Völkern Gewalt, Hexenglaube und sorgloser Umgang mit der Umwelt verbreitet.

Von Christian Weber

Okay, okay - an einigen unwirtlichen Orten dieses Planeten mag es immer noch angebracht sein, fremde Menschen, die einem unangemeldet über den Weg laufen, vorsichtshalber zu erschlagen. Und vielleicht darf man sogar ein bisschen Verständnis zeigen, wenn traditionsbewusste Inuit-Völker in der Arktis oder die San in der Kalahari zumindest früher ihre Alten aussetzten und verhungern ließen; das Essen war halt knapp. Die Frage ist allerdings, ob nicht ein staatliches Gewaltmonopol oder eine allgemeine Rentenversicherung die freundlichere Art der Daseinsvorsorge ist, zumindest dann, wenn man in einem westlichen Industriestaat lebt, der sich solche Institutionen leisten kann.

Ganz seltsam aber ist, dass selbst in den USA und Europa gar nicht wenige Menschen glauben, dass die Stammesgesellschaften dieser unwirtlichen Planetenorte das bessere Leben führen: im Einklang mit Baum und Tier, in Freiheit und Harmonie mit den anderen, einfacher, aber sinnerfüllter und gesünder, freier im Sex. Es ist ein schönes, falsches Märchen, das Unheil anrichtet.

Er lebt halt immer noch in den Köpfen der Großstädter, der Mythos vom Edlen Wilden. Und wahrscheinlich tragen Fotos wie die hier erstmals abgedruckten des britischen Fotografen Jimmy Nelson zu dieser Mythenbildung bei. Es ist die Fortsetzung einer ähnlichen Reihe, "Before they pass away" betitelt, die vor wenigen Jahren quer durchs Internet Aufmerksamkeit erregte, aber auch heftig kritisiert wurde - wenn auch meist aus den falschen Gründen.

Denn das zentrale Problem mit Nelsons ebenso prächtigen wie kitschigen Aufnahmen ist nicht - wie häufig bemängelt - die angeblich oder tatsächlich fehlende Authentizität. Die Lendenschürze und Kopffedern sind in vielen oder den meisten von ihm fotografierten Völkern mindestens so authentisch, wie die Lederhosen und Dirndl in denen Männer und Frauen aus Oberbayern in den Prospekten der Fremdenverkehrsindustrie und in den Reiseführern posieren: Lederhose und Lendenschurz sind häufig nicht mehr Alltagsbekleidung, eher festliche Tracht, obwohl sie in den entlegenen Ecken etwa Papua-Neuguineas, Süd-Äthiopiens und Bayerns durchaus noch verbreitet sind. Und Schamanen im nepalesischen Mustang setzen sich zur traditionellen Arbeitsbekleidung mittlerweile auch mal coole Sonnenbrillen aus Kathmandu auf. Selbst urtümliche bayerische Bauern schätzen moderne Gummistiefel, wenn sie durch den Schlamm stapfen.

Zudem behauptet der Ex-Modefotograf Jimmy Nelson ja auch gar nicht, dass er dokumentarischen Journalismus macht. Er macht keinen Hehl daraus, dass er vor seiner Plattenkamera inszeniert. Womöglich hat er seine Protagonisten tatsächlich gebeten, die westlichen Kleidungsstücke zur Seite zu legen und stattdessen die alten Trachten hervorzuholen, vielleicht ein bisschen mehr Haut zu zeigen. Das sieht dann manchmal aus wie eine Szene aus "Game of Thrones" und ist erst Mal auch nicht verwerflicher als das Verhalten von Neu-Münchnern, die eigentlich erst vor zwei Jahren aus Wuppertal hergezogen sind, sich aber für das Oktoberfest in alpenländische Tracht werfen.

Es ist naiv, nur das für authentisch zu halten, was in grauer Vorzeit verankert ist, als sei es von den Göttern gestiftet. Kleidung und Körperdekoration sind immer Menschenwerk. Nichts zeigt das besser als die bayerische Lederhose. Sie war ursprünglich die profane Arbeitshose der Landbevölkerung, die zudem im 19. Jahrhundert zunehmend durch Loden ersetzt wurde. Erst in der Romantik, unter dem Einfluss von Künstlern wie dem Maler Ludwig Richter und unterstützt von den Wittelsbachern, wurde sie zur Jahrhundertwende langsam zur Tracht. Richtig verbreitet hat sich die Lederhose dann erst nach dem 1. Weltkrieg, als es so richtig mit dem Alpentourismus losging und die Großstädter, nun ja: authentische Ureinwohner besichtigen wollten.

Die bayerische Tracht ist also zumindest in Teilen eine erfundene Tradition, ein Begriff, den der britische Historiker Eric Hobsbawm geprägt hat: In der Gegenwart konstruierte kulturelle Symbole werden in die Vergangenheit zurückprojiziert, um die kollektive Identität zu festigen. In unsicheren Zeiten zieht der Münchner eher die Wiesn-Tracht an, damit ihm etwas wärmer ums Herz ist und er sich weniger einsam fühlt in einer globalisierten Zeit, in der so vieles im Fluss ist. Daran muss nichts Schlechtes sein.

Auf ähnliche Weise lassen sich auch die ästhetisierenden, kleidungstechnisch wahrscheinlich nicht ganz korrekten Porträts Jimmy Nelsons deuten: Das fotografische Interesse des Westens kann die Identität von kleinen Völkern stärken, die ja häufig am Rande der Gesellschaft leben. Nelson ist ja nicht der einzige Fotograf, der sich zu indigenen Völkern aufgemacht hat. So werden mittlerweile etwa von Addis Abeba aus Fotosafaris in das Omo-Tal im äußersten Südwesten Äthiopiens angeboten, wo ein Dutzend indigener Völker - unter anderem die Mursi, Hamar, Sumar, Karo - noch in relativ großer Isolation lebt. Hier ist der sogenannte Schattenverkauf - das Posieren für Kameras - in einigen Orten zur wesentlichen Einkommensquelle geworden, denn die Touristen müssen für jeden Klick zahlen.

Gerade wegen dieses relativ neuen touristischen Interesses fühlten sich die Menschen im Omo-Tal erstmals von Außenstehenden in ihrer Kultur bestärkt, pflegen traditionellen Schmuck und Körperbemalung. Was allerdings manchmal zu bizarren Effekten führt: Der britische Ethnologe David Turton hat nachgemessen und festgestellt, dass der durchschnittliche Durchmesser der - ohnehin schon riesigen - Lippenteller der Mursi-Frauen weiter gewachsen ist, seitdem Touristen kommen. Offenbar eine Reaktion auf das fotografische Interesse: Wer die größere Lippe wagt, erhält mehr Klicks und mehr Geldscheine.

350 Millionen Menschen

auf der Welt gehören im weitesten Sinne zu den indigenen Völkern, allein auf Neuguinea leben über 1000 Völker, die zum Teil extrem unterschiedliche Sprachen sprechen. Dabei bedeutet der Begriff nicht, dass alle Angehörigen solcher Völker ein vormodernes Leben führen. So gelten etwa die Samen Lapplands als indigen, nutzen aber heute Schneemobile und Helikopter. Entscheidend ist, dass sie vor der Eroberung oder Staatsgründung durch andere Völker in einem Gebiet lebten und ihre Traditionen beibehalten haben.

Doch nicht nur wegen solcher Wechselwirkungen bleibt ein leichtes Unbehagen an Bildern wie denen Jimmy Nelsons. Gerade in ihrer Schönheit werden die von ihm porträtierten Menschen zu primär exotischen Objekten, gezähmten Fremden; sie präsentieren sich auf den Fine-Art-Prints so wie Zirkuslöwen hinter Gittern, fremd, aber gezähmt. Sie bedienen die Schaulust, können aber nicht beißen. Man erfährt nichts über sie, außer dass sie offenbar eine starke und harmonische Gemeinschaft stolzer Menschen bilden. So lassen sie jede Menge Raum für die Projektionen zivilisationsmüder Europäer. Und was sehen die? Edle Wilde, deren Sitten und Gebräuche so geschützt werden müssen wie Roter Panda und Schuppentier. Kaum jemand wagt die ketzerische Frage: Ist das eigentlich wünschenswert?

Das liegt vielleicht auch daran, dass auf den exotischen Bildern starker Krieger und halbnackter junger Frauen eben nicht zu sehen ist, dass die Lebenserwartung in indigenen Völkern mangels ordentlicher Gesundheitsversorgung in der Regel niedrig ist, dass Hexenglaube und Gewalt in all ihren Formen sehr stark verbreitet sind, soziale Beziehungen wie Freundschaften sehr viel zweckorientierter sind. Nahrungsmittel-Tabus führen in vielen dieser Gesellschaften zu einer schlechteren Ernährung, religiöse Vorstellungen zu unnötigen Ängsten.

Manchmal vernichteten die sogenannten Naturvölker auch ihre Umwelt, so etwa die Maori. Die Ureinwohner Neuseelands verbrannten Anfang des 14. Jahrhunderts nahezu den gesamten Wald der Insel. Auch die Sexualität ist in aller Regel sehr viel regulierter als in westlichen Gesellschaften. Was die US-Ethnologin Margareth Mead über das angeblich unbeschwerte sexuelle Erwachen der Jugend auf Samoa schrieb, war ein empirisch wenig fundiertes Paradies-Klischee.

Das äthiopische Omo-Tal etwa, wo Jimmy Nelson für seine früheren Bildreihen ebenfalls fotografierte, zeichnen sich durch besondere Gewalttätigkeit aus. Bei manchen Gruppen muss ein Mann einen Feind getötet haben, um überhaupt heiratsfähig zu werden. Bei den Hamar werden alle Frauen zur Initiation so ausgepeitscht, dass ihnen blutend die Haut aufplatzt. Beim Omo-Volk der Arbore werden Mädchen im Alter von sechs oder zwölf Jahren die zwei mittleren, unteren Schneidezähne aus dem Kiefer gebrochen. Vor der Heirat folgt die radikale Verstümmelung der Vulva. Mit Rasierklinge oder Küchenmesser entfernt eine medizinisch ahnungslose Beschneiderin Klitoris und innere Schamlippen; desinfiziert wird mit Butter, Asche oder Kuhdung.

Ethnologen sind immer noch recht gut darin, solche Praktiken aus der inneren Logik dieser Gesellschaften zu erklären. "Über das Ertragen des Schmerzes" werde die "Attraktivität des Individuums" gesteigert und mache eine normale soziale Karriere überhaupt erst möglich, schrieb die Berliner Forscherin Anni Peller zu den Praktiken der Arbore; das Paper im Fachmagazin Afrika Spectrum trägt den launigen Titel "No pain, no gain". Die Altentötung in der Kalahari hat ohnehin praktische Gründe, sie dient dem Überleben der Gruppe. So lässt sich jede Menschenrechtsverletzung als leider notwendige, optimale Adaption an die Umwelt deuten.

Doch was ist der Nutzen einer weiteren, in manchen Omo-Orten verbreiteten Praxis? Wenn bei einem Baby etwa die Zähne zuerst im Oberkiefer wachsen, gilt es als "mingi" - als unrein und verflucht. Es wird dann im Busch ausgesetzt, wo es verhungert, oder es wird gleich ertränkt. Manchmal wird es von Missionaren gerettet. Ebenfalls keine Anpassung kann eine Sitte in Neubritannien sein: Dort haben sich nur zwei von 100 Völkern angewöhnt, ihre Witwen zu erdrosseln - bei praktisch identischen Umweltbedingungen.

Natürlich darf man nicht alle indigenen Völker über einen Kamm scheren; sie unterscheiden sich mindestens so stark wie moderne Gesellschaften untereinander. Manche sind friedlich, manche nicht; manche haben abscheuliche Gewohnheiten, andere nicht. Der Kulturanthropologe Jared Diamond weist etwa in seinem Buch "Vermächtnis" sogar darauf hin, "was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können". Immerhin sei niemand einsam dort, auch die Alten nicht, in den meisten indigenen Völkern würden die Kinder autonomer aufwachsen, zugleich sei im Dorf immer jemand für sie da. So würden eher selbstständige Menschen aus ihnen. Und: Sie kochen nicht mit Salz, was besser fürs Herz sei.

Das ist ein bisschen wenig, um indigene Völker zu idealisieren - wovor auch Diamond ausdrücklich warnt. Vielmehr wäre es an der Zeit, jene unter Ethnologen immer noch verbreitete Haltung in Frage zu stellen, die jede menschliche Gesellschaftsform für bewahrenswert hält. Sie entspringt dem vom deutschstämmigen Ethnologen Franz Boas (1885-1942) begründeten Kulturrelativismus, der behauptet, dass jede Kultur nur aus sich selbst heraus zu verstehen und sie in ihren Werten und Normen von außen nicht zu beurteilen sei. Das war mal eine progressive Ansicht, als man westlichen Rassismus kritisieren wollte und die Meinung ablehnte, dass die ganze Welt möglichst dem europäischen Entwicklungsmodell folgen sollte. Heute ist die Ansicht erbärmlich, etwa wenn emanzipierte deutsche Forscherinnen Frauen in Afrika erklären, dass es ganz in Ordnung sei, wenn ihre Geschlechtsorgane verstümmelt werden.

Es ist der gleiche Relativismus, mit dem die chinesische Staatsführung der Bevölkerung volle Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verwehrt. Oder der in fundamentalistischen islamischen Ländern Frauen die Gleichberechtigung versagt. Eine solche Haltung führt zu einem Paternalismus, der für die angeblich Schutzbefohlenen selbst böse Folgen haben kann. So beschrieb bereits vor Jahren der australische Ethnologe Roger Sandall, wie ein gut gemeinter Schutz der Originalkultur dazu führte, dass die Kinder von Aborigines in Nordwest-Australien kein Lesen und Schreiben in Englisch lernten und so zu vorbildlich indigenen Analphabeten wurden - leider ohne Zukunft auf dem Arbeitsmarkt.

Nun muss man nicht glauben, dass man mal auf die Schnelle, gar von außen ein modernes Strafrecht und eine Frauenquote für Stammesämter im Omo-Tal oder Papua-Neuguinea etablieren kann. Es ist schon viel wert, wenn Menschenrechtsgruppen und NGOs in Afrika die Beschneidung ein wenig zurückdrängen können. Doch es gibt keinerlei Grund, von den Verhältnissen in Stammesgesellschaften zu träumen - genauso wenig wie man über die Probleme von Industriestaaten hinweg sehen muss. Dennoch läuft in diesen so einiges auch besser. Der mittlerweile emeritierte Ethnologe Robert B. Edgerton von der University of California, Los Angeles, hat es schon vor Jahren schön formuliert: "Alle Gesellschaften sind krank, aber manche sind kränker als andere."

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Quelle:
SZ vom 15.10.2016
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