Süddeutsche Zeitung

Ethnologen im Hilfseinsatz:Böser Zauber Ebola

  • Wenn Krankheitserreger und Kultur aufeinandertreffen, können sich gefährliche Konflikte entzünden. Neben Medizinern, Virologen und Logistikern sind deshalb auch viele Anthropologen und Ethnologen am Kampf gegen Ebola beteiligt.
  • Traditionelle Beerdigungen, in denen die Toten in aufwendigen Zeremonien geküsst und gewaschen werden, tragen ebenso zur Ausbreitung des Virus bei wie die Tatsache, dass Menschen im Krankenhaus bei der Pflege ihrer Angehörigen helfen.
  • Wer in Liberia oder Sierra Leone mit den Menschen spricht, bekommt immer wieder Verschwörungstheorien zu hören.
  • Experten fordern: Zwischen Medizinern und der Bevölkerung müssten Brücken gebaut werden.

Von Kai Kupferschmidt

Der Notruf kam früh am Morgen. Es gebe ein Problem, sagte der Leiter des örtlichen Krankenhauses nur. Und es sei dringend. Julienne Anoko machte sich sofort auf den Weg. Es war Anfang Juli, in Guinea verbreitete sich seit Monaten das Ebolavirus. Anoko, eine französische Ethnologin, war in Guéckédou, um bei der Bekämpfung zu helfen.

Im Krankenhaus habe sie eine unfassbare Situation erwartet, sagt Anoko. Am Abend zuvor war eine junge Frau eingeliefert worden, 24 Jahre alt, im neunten Monat schwanger. Einige Stunden später war sie gestorben. An Ebola. Nun wollte die Familie die Frau beerdigen, doch vorher, forderten sie, müssten die Ärzte den Leichnam aufschneiden und den Säugling herausnehmen. Die beiden dürften auf keinen Fall zusammen beerdigt werden.

Was grausam klingt, war für die Familie ein entscheidendes Ritual. "Sie haben mir erklärt, dass die Familie sonst verflucht wäre. Noch die Urenkelinnen würden dann im Kindbett sterben", sagt Anoko. Für die Ärzte kam der Wunsch der Bitte gleich, durch ein Minenfeld zu rennen. Ein Mensch, der an Ebola stirbt, ist am Ende seines Lebens eine Art Virusbombe. Jeder Milliliter Blut kann Milliarden Viruspartikel enthalten. Und die Frau war in einem normalen Krankenhaus gestorben, das nicht für Ebolafälle gerüstet war. Ein Kaiserschnitt war schlicht zu gefährlich. Aber die Familie hatte angekündigt, den Leichnam sonst mitzunehmen und die Operation selbst zu machen, was das ganze Dorf gefährdet hätte. Anoko war gerufen worden, um einen Weg aus dem Dilemma zu finden.

Anfangs musste alles schnell gehen

Wenn Krankheitserreger und Kultur aufeinandertreffen, können sich gefährliche Konflikte entzünden. Neben Medizinern, Virologen und Logistikern sind deshalb auch viele Anthropologen und Ethnologen am Kampf gegen Ebola beteiligt. Und je länger der Ausbruch andauert, umso wichtiger werden sie, sagt Catherine Bolten von der University of Notre-Dame in den USA. Die Ethnologin erforscht seit Jahren in Sierra Leone, wie sich etwa das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat nach dem Ende des Bürgerkriegs entwickelt.

Zu Beginn des Ebolaausbruchs musste alles schnell gehen. Hilfsorganisationen waren völlig überfordert, Ärzte hatten weder die Zeit noch das Wissen, kulturelle Faktoren zu berücksichtigen. Nun müssen Ethnologen wie Bolten und Anoko versuchen, verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen oder überhaupt erst aufzubauen.

Der kulturelle Kontext ist bei der Bekämpfung von Ebola doppelt wichtig. Auf der einen Seite soll die Bevölkerung Rituale unterlassen, die das Virus verbreiten könnten. Dazu müssen die Traditionen erst einmal bekannt sein, und es ist Fingerspitzengefühl notwendig. Auf der anderen Seite hat das plötzliche Auftauchen der Helfer aus fremden Ländern Misstrauen und Verschwörungstheorien geschürt, eine Herausforderung für Hilfsorganisationen, die die Bevölkerung überzeugen müssen, die angebotene Hilfe auch anzunehmen. Auch sie müssen lernen, ihr Verhalten anzupassen. "Es bringt nichts, Ebolabehandlungszentren aufzubauen, wenn die Menschen Angst vor ihnen haben und weglaufen, die Kranken verstecken und die Toten heimlich beerdigen", sagt Bolten.

Es geht um Glauben. Um die Vorstellungen, wie die Welt der Lebenden und Toten zusammenhängen, welche unsichtbaren Kräfte die Gesundheit beeinflussen. Aber es geht auch um den Glauben an das Gute im Anderen, um Vertrauen also. "Diese Menschen kämpfen ständig um alles, um ihr Leben", sagt die Ethnologin Almudena Marí Sáez von der Berliner Charité. Und sie tun das alleine. "Plötzlich kommen wildfremde Menschen und behaupten, ihnen helfen zu wollen. Natürlich sind sie misstrauisch."

Marí Sáez war bereits in Westafrika, als Ebola dort ausbrach. Die Ethnologin war in Guinea, um im Rahmen eines von der Charité koordinierten Projekts an Lassafieber zu forschen. Wie Ebola wird es durch ein Virus ausgelöst, führt zu Fieber und Blutungen und endet häufig mit dem Tod. Marí Sáez sollte erforschen, wie Menschen in Guinea mit der Natal-Vielzitzenmaus interagieren, die den Erreger überträgt. Ein Forschungsprojekt, das eines Tages helfen könnte, die Zahl von Erkrankungen zu reduzieren. Dann kam Ebola, und sie war plötzlich mitten in einer medizinischen und humanitären Katastrophe.

Schon das Ausmaß des Ausbruchs zeigt die Bedeutung kultureller Faktoren. Mehr als 18 000 Menschen haben sich laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in den vergangenen Monaten in Guinea, Liberia und Sierra Leone mit dem Virus infiziert. Mehr als 6000 sind gestorben. Kaum ein Forscher habe geglaubt, dass ein Ausbruch je so groß werden könnte, sagt Matthias Borchert, Tropenmediziner an der Charité, der mit Marí Sáez zusammen an dem Lassa-Projekt arbeitet. Man habe unterschätzt, was passiere, wenn viele Faktoren zusammentreffen. "Da war nichts grundsätzlich Neues", sagt Borchert.

Abstand halten, aber im Gespräch näher kommen

Die kulturellen und politischen Faktoren, die die Ausbreitung von Ebola begünstigten, seien in Guinea, Liberia und Sierra Leone noch ausgeprägter als in anderen Ländern: Die Armut der Bevölkerung, ihre Mobilität, Misstrauen, Korruption, Sprachbarrieren. Traditionelle Beerdigungen, in denen die Toten in aufwendigen Zeremonien geküsst und gewaschen werden, tragen ebenso zur Ausbreitung des Virus' bei wie die Tatsache, dass Menschen im Krankenhaus bei der Pflege ihrer Angehörigen helfen. "Diese ganzen Sachen kommen zusammen, und plötzlich gibt es einen Ausbruch, den man nicht klein halten kann."

Das Gesundheitsministerium von Guinea bat Marí Sáez zu untersuchen, warum manche Dörfer die Helfer mit offenen Armen empfingen, während andere Barrikaden aufbauten und Steine warfen. Am Anfang habe sie Angst gehabt, sagt die Ethnologin. Um die Bewohner nicht zu erschrecken, seien sie ohne Schutzkleidung in die Dörfer gegangen. Nur Gummistiefel, Plastikstühle und der Plan, zwei Meter Abstand zu halten. "Die Menschen kommen auf dich zu, und dann musst du einen Schritt zurück machen. Das war wie ein Tanz", sagt Marí Sáez. Es ist eine komplizierte Choreografie: Abstand halten, aber den Menschen im Gespräch näher kommen. "Im Grunde geht es nur darum, zuzuhören und den anderen zu verstehen", sagt die Wissenschaftlerin.

Aus den Gesprächen habe sie vieles gelernt. Etwa, dass manche Botschaften kontraproduktiv waren. "Von Anfang an wurde immer gesagt: Es gibt kein Heilmittel gegen Ebola. Und die Antwort der Menschen war: Warum wollt ihr, dass wir in dieses Krankenhaus gehen, wenn ihr uns eh nicht helfen könnt?" Und die ersten Erfahrungen mit der westlichen Hilfe waren abschreckend. Viele Kranke verschwanden in den Behandlungszentren, abtransportiert von vermummten Fremden, und die Angehörigen hörten nie wieder von ihnen. "Kein Wunder, wenn dann der Nächste, der krank wurde, weggelaufen ist."

An einem sonnigen Novembernachmittag sitzt Marí Sáez am Rand einer viel befahrenen Straße im Osten Monrovias mit zehn jungen Männern und Frauen in einem Stuhlkreis. Wenige hundert Meter weiter haben die Chinesen gerade ihr neues Ebola-Krankenhaus fertigbekommen. In dem Stadtteil wurden die meisten der großen Ebola-Behandlungszentren gebaut. Viele Anwohner fühlen sich damit unwohl. Fast eine Stunde lang hat sich Marí Sáez mit ihnen unterhalten und ihre Sorgen angehört. Ob jemand noch etwas wissen wolle, fragt sie am Ende. Schüchtern meldet sich eine junge Frau. "Sind die Amerikaner wirklich nur wegen Ebola hier?" fragt sie. "Was glaubst du denn?", fragt die Ethnologin interessiert. Aber die junge Frau schaut auf den Boden.

Wer in Liberia oder Sierra Leone mit den Menschen spricht, bekommt immer wieder Verschwörungstheorien zu hören: Dass die Amerikaner eine Biowaffe testen. Dass die Menschen in den Ebolazentren gar nicht behandelt werden. Dass die Ärzte Organe stehlen. Dass die Malariatabletten, die inzwischen verteilt werden, Ebolapatienten töten sollen.

Den Gerüchten müsse man möglichst viel Wissen entgegensetzen, aber das sei nicht leicht, sagt Catherine Bolten. Die Probleme fangen bei simplen Fragen an: Wie erzählt man einem Dorfbewohner in Sierra Leone von einem Virus, wenn es in seiner Sprache, Kathemne, kein Wort für "Virus" gibt? Am Anfang hätten viele das Wort "tumbu" benutzt. Das bedeutet soviel wie Made und ist das kleinste Lebewesen, für das es in der Sprache ein Wort gibt, sagt Bolten. "Aber Maden kann man mit bloßem Auge sehen, und dann haben manche Menschen im Blut der Kranken danach gesucht, nichts gefunden und wurden erst recht misstrauisch." Es sei deshalb besser, über einen bösen Zauber zu sprechen, der durch Körperflüssigkeiten übertragen werde, sagt die Ethnologin. "Wir müssen mit den Menschen in einer Sprache sprechen, die sie verstehen."

"Man muss einfach nur zuhören"

Anthropologen und Ethnologen müssten Brücken bauen zwischen den Medizinern und der Bevölkerung, sagt Julienne Anoko. Das galt auch für das Dilemma, mit dem sie im Juli in Guinea zu tun hatte. Drei Tage lang verhandelte Anoko mit den Eltern und dem Dorf, während die Leiche der schwangeren Frau im örtlichen Krankenhaus zu verwesen begann. Sie habe die Dorfbewohner gefragt, was sie zu Zeiten des Bürgerkriegs gemacht hätten, wenn sie ihre Angehörigen mitunter auch nicht richtig beerdigen konnten. "Es gibt fast immer einen Ausweg, ein Ritual, dass alles wieder zurecht rückt", sagt sie.

Tatsächlich fand sich so eine Lösung. Anoko musste auf Kosten der WHO schwarze, rote und weiße Tücher kaufen und eine Ziege. In einer langen Zeremonie wurde die Frau mit dem Baby im Bauch beerdigt. Die Dorfbewohner, in rot, schwarz und weiß geschmückt, baten ihre Vorfahren um Vergebung für den Bruch mit der Tradition, der Riss im Familiengewebe wurde so wieder repariert. "Das ist nicht kompliziert", sagt Anoko. "Man muss den Menschen einfach nur zuhören."

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Quelle:
SZ vom 15.12.2014/mahu
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