Süddeutsche Zeitung

Esoterik:Siegeszug der Mondkalender

Viele Menschen sind überzeugt, ihr Leben befinde sich fest im Bann des Erdtrabanten - und orientieren sich an Mondkalendern: Wie binnen 20 Jahren ein Aberglaube zum Allgemeingut wurde.

Sebastian Herrmann

Ein öder Gesteinsbrocken kreist um die Erde und treibt den Preis für Mineralwasser in die Höhe. Er besitzt weder Atmosphäre noch Magnetfeld und befindet sich etwa 400.000 Kilometer von den Regalen eines Münchner Bio-Supermarkts entfernt.

Trotzdem hat das Ding - es handelt sich um den Mond - mit den Flaschen zu tun, die dort stehen. Das Mineralwasser aus der St.-Leonards-Quelle kostet 2,09 Euro je Liter. Ein heftiger Preis, den aber viele Kunden gerne zahlen. Denn laut Etikett wurde das Wasser bei Vollmond abgefüllt und das - so glauben zahlreiche Menschen - wirke sich irgendwie positiv auf die Qualität des Wassers und die eigene Gesundheit aus.

Der Mond regt die Phantasie vieler Menschen an. Sie sind überzeugt, ihr Leben befinde sich fest im Bann des Erdtrabanten. Derzeit laufen die Mondjünger wieder in die Buchhandlungen und kaufen den aktuellen Mondkalender von Johanna Paungger und Thomas Poppe, der auf üppig beladenen Mond-Büchertischen liegt. 1991 erschien die erste Auflage ihres Buches "Vom richtigen Zeitpunkt.

Die Anwendung des Mondkalenders im täglichen Leben", um das all die anderen Mondpublikationen der beiden Autoren wie Trabanten kreisen. 1993 schaffte die Veröffentlichung den kommerziellen Durchbruch. Nun liegt der Abreiß-Mondkalender für das Jahr 2011 in den Läden. Die Leser erfahren darin, wie die günstigen Tage zum Fensterputzen im kommenden Jahr fallen und wann der rechte Termin ist, um besonders dreckige Textilien in die Waschmaschine zu stecken.

Das Autorenduo hat den irrationalen Glauben an die Kraft des Mondes binnen 20 Jahren in eine Massenbewegung verwandelt. Paungger und Poppe haben eine Millionen-Auflage erreicht und zahlreiche Nachahmer gefunden.

Tageszeitungen wie der Münchner Merkur veröffentlichen neben dem Horoskop täglich einen Mondkalender und raten ihren Lesern, bei zunehmendem Mond im Schützen und Skorpion, doch mal auf ein Bier in die Kneipe zu gehen, weil man da nette Menschen kennenlernen könnte. Dutzende Friseure in deutschen Städten bieten einen Schnitt nach der Stellung des Mondes an oder versprechen, dass bei abnehmendem Mond entfernte Körperhaare verlangsamt nachwachsen.

Brauereien verkaufen Bier, in dem neben Hopfen und Malz auch die Kraft des Mondes stecken soll. Mondsalami, Mondkäse und Mondwasser sind auch im Angebot. Baubiologen zucken begeistert mit der Wünschelrute, während sie die Vorzüge von Holz preisen, das zu speziellen Mondkonstellationen geschlagen wurde.

Und wie immer im wabernden Nebel der esoterischen Beliebigkeit wird der Mond auch für zahlreiche medizinische Heilsversprechen bemüht: Manche Orthopäden behandeln zum Beispiel Arthrose entsprechend der Mondkonstellation, andere Mediziner behaupten hartnäckig, zu Vollmond gebe es bei Operationen häufiger Komplikationen.

Man möchte verzweifelt den Mond anheulen. Warum lässt sich offenbar niemand davon beeindrucken, dass sämtliche Mond-Mythen wissenschaftlich wasserdicht widerlegt worden sind? Das forstwissenschaftliche Institut der TU Dresden hat zum Beispiel Mondholz intensiv untersucht - und keine besonderen Eigenschaften gefunden.

Trotzdem glauben manche Menschen, dass Mondholz nicht brennt. Die Analyse von 167.956 Geburten in Phoenix, Arizona, die Untersuchung von 40.000 Geburtsdaten in Deutschland sowie die Prüfung von 5226 Hausgeburten in Mosambik ergab keinen Zusammenhang mit den Mondphasen. Bei 228 Knie- und Hüftoperationen, die sich der Linzer Chirurg Michael Schardtmüller und der Heidelberger Soziologe Edgar Wunder angesehen haben, zeigte sich kein lunarer Einfluss.

Wissenschaftlich widerlegt

In solchem Stakkato-Stil ließe sich Studie um Studie aufzählen. Wissenschaftliche Mondstudien sind fast so populär wie Mondkalender - weil sie so einfach durchzuführen sind. Eine Analyse von mehr als 100 Untersuchungen zu 24 vermeintlichen Mondeffekten, die von den US-Forschern Ivan Kelly, James Rotton und Roger Culver durchgeführt wurde, fand keinen Zusammenhang; nicht bei Aggressionen, nicht bei Drogenkonsum, der Zahl von Verkehrsunfällen, dem Verhalten von Patienten in psychiatrischen Anstalten, bei der Zahl von Krankenhaus-Einlieferungen und nicht einmal beim Schlaf. Laut einer Forsa-Umfrage glauben trotzdem 92 Prozent der Deutschen, dass der Mond Einfluss auf ihr Leben oder ihre Gesundheit ausübe.

Klar, viele Tiere richten ihr Verhalten nach dem Mond aus, Fledermäuse zum Beispiel, die bei Vollmond weniger aktiv sind. Und Korallen entlassen ihrer Eier bei Vollmond ins Meer. Doch das hat mit dem vermehrten Mondlicht zu tun. Auf den Menschen hat dieses keinen Einfluss, jede Straßenlaterne scheint heller. Aber der Mond sorgt doch auch für Ebbe und Flut? Stimmt, doch dabei wirken nur winzige Kräfte pro Wassertropfen. Der Effekt fällt nur so groß aus, weil sich das Wasser in den Ozeanen weit verteilen kann. "Deswegen gibt es in der Badewanne auch nicht Ebbe und Flut, in den riesigen Meeren aber schon", sagt Josef Fried, der am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg forscht.

"Die Leute wollen halt daran glauben", sagt Andreas Hergovich von der Universität Wien. Der Sozialpsychologe hat zwei Bücher darüber geschrieben, warum Menschen von Astrologie oder vermeintlich übersinnlichen Phänomenen überzeugt sind. "Mondkalender bieten den Menschen simple Richtlinien, die es einem sehr leicht machen, daran zu glauben", sagt Hergovich.

Nach den Lehren von Paungger und Poppe dreht sich der Mond stur nach dem Analogieprinzip durch das Leben der Gläubigen: Bei abnehmendem Mond empfiehlt der Kalender Tätigkeiten, bei denen etwas entfernt wird - Schmutz, Haare, Fingernägel oder reifes Gemüse aus dem Acker. Bei allem, was wachsen, gedeihen und sich vermehren soll, rät der lunare Lebensplan bei zunehmendem Mond aktiv zu werden.

Diese banalen Ideen nehmen Menschen für den Mond-Glauben ein? "Es handelt sich um einen Erfahrungsglauben, der durch Probieren funktioniert", sagt der Soziologe Wunder. Die Menschen widmen sich den Dingen durch die Ratschläge der Kalender intensiver und pflanzen etwa mit großer Sorgfalt Radieschen im Einklang mit dem Mond. "Natürlich beobachten sie dann alles weitere besonders genau und kümmern sich besser um ihre Gemüsebeete, die dadurch gut gedeihen", sagt Wunder.

So beschaffen sich Mond-Menschen selbst scheinbare Beweise: Die Radieschen gedeihen prächtig, der Mond, Sie wissen schon. Die Gegenprobe, wie das Gemüse bei vermeintlich schlechten kosmischen Konstellationen wächst, wird nicht gemacht und so bestätigt sich die Erfahrung subjektiv.

"Das wird dann oft zum Selbstläufer", sagt Wunder. Wer außerdem mal wieder nicht schlafen kann und den Vollmond vor dem Fenster anglotzt, ist endgültig von der unheimlichen Kraft des Erdtrabanten überzeugt. Wenn er bei Neumond auch nicht schlafen kann, erschüttert das seine Annahme nicht: Er wird seine Aufmerksamkeit auf andere Dinge lenken und nicht über den Mond nachdenken - eine Mischung aus selbst bestätigender Erwartung und selektiver Wahrnehmung.

Wie hartnäckig viele Menschen ihren trügerischen Erfahrungen glauben, erlebt Helmut Groschwitz von der Universität Regensburg immer wieder. Bei einem seiner Vorträge widersprach eine Frau den Ausführungen des Kulturwissenschaftlers, der sich mit Mondmythen beschäftigt.

Seit sie ihre Reisigbündel für Adventskränze nach dem Mondkalender schneide, hielten diese länger frisch, erklärte die Dame. Auf Nachfrage erzählte sie, dass sie etwa zeitgleich von Fichten- auf Douglasienzweige umgestiegen sei. Auch als ihr andere Zuhörer mehrmals versicherten, dass Fichten ihre Nadeln rascher verlieren als Douglasien, beharrte sie auf ihrer Interpretation.

In jedem Dorf eine andere Variante

Frauen stellen die Mehrheit unter den Mond-Gläubigen, wie überhaupt unter den Esoterik-Anhängern. In Bayern und Baden-Württemberg ist der Glaube am weitesten verbreitet. "Ein Drittel der Bevölkerung in Süddeutschland steht den Mondkalendern aufgeschlossen gegenüber", sagt Wunder. Im Norden und in den neuen Bundesländern leben eher Mondkalender-Heiden. Doch auch dort existieren Mondmythen.

Es herrscht eine große Beliebigkeit: In Deutschland erzählten sich die Menschen einst praktisch in jedem Dorf eine andere Variante der geheimnisvollen Mondkräfte. "Übereinstimmungen zu finden, ist fast unmöglich", sagt Wunder. Das ist noch heute so.Die USA erlebte zum Beispiel durch die New-Age-Bewegung in den 1970er- und 1980er-Jahren eine Phase der intensiven Mondanbetung. Dort konzentrierte man sich aber auf den Vollmond. Mondphasen oder Konstellationen spielten in Amerika kaum eine Rolle.

Paungger und Poppe vermarkten den Mond erfolgreich als Leben im Einklang mit der Natur und von der Moderne bedrohte Tradition. "Altes Wissen gilt vielen Menschen als per se gut und wertvoll", sagt Groschwitz. Die Bücher erwecken den Anschein, als handele es sich um alte Tiroler Bauernweisheit, die sich über Jahrhunderte im Stillen bewährt habe und nur durch die Autoren vor dem Vergessen gerettet wurde.

"Man argumentiert, dass die böse Moderne etwas verdrängt", sagt Groschwitz. Nur habe es da nichts gegeben, was verdrängt werden konnte, hat der Kulturwissenschaftler in umfangreicher Recherche ermittelt. Mondkalender tauchten erst im 19. Jahrhundert auf.

Zuvor hatte der Aberglaube allenfalls in gehobenen Kreisen eine untergeordnete Bedeutung: In der Medizin des Mittelalters spielte der Mond zum Beispiel eine geringe Rolle. Laut Kalendarien aus dem 15. Jahrhundert sollten junge Leute bei zunehmendem und alte Menschen bei abnehmenden Mond zur Ader gelassen werden. Diese Publikationen erreichten nur eine geringe Verbreitung und verschwanden während der Zeit der Aufklärung.

Im 19. Jahrhundert wurden diese einst elitären Überzeugungen dann als vermeintlich alter Bauernglauben umetikettiert. Die Lebensreformbewegung und die Anthroposophie Rudolf Steiners gaben dem neuen Mondglauben in den 1920er- und 1930er-Jahren einen weiteren Schub.

Heute leben die Ideen Steiners in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft fort: Demeter-Produkte wachsen im Einklang mit einem Glauben an die Kraft des Mondes und der Gestirne, die sich etwa in gemahlenen Kristallen konzentrieren soll, die dann als homöopathisch verdünnte Lösung auf die Felder gesprüht werden.

Auf diesem Acker gedeihen heute die Mondmythen. Maria Thun zum Beispiel veröffentlicht seit 1963 einen jährlichen Aussaatkalender, um Beete im Einklang mit dem Mond zu bepflanzen. Laut Groschwitz haben Paungger und Poppe aus diesen Büchern großzügig abgeschrieben. Die Sache mit dem Mond ist eben ein ziemlich beliebiger Käse - ohne Nährwert und Geschmack.

Paungger und Poppe schreiben auf ihrer Webseite übrigens, dass sie ihre Version der Mondlehre nun auf den amerikanischen Markt tragen möchten und ihren Wohnsitz in die USA verlegen werden. Deshalb steht ihr Haus bei Wien zum Verkauf. Natürlich wurde es mit Mondholz nach dem Rhythmus des Erdtrabanten gebaut.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1023207
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 13.11.2010/mcs
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.