Erziehungs-Ratgeber Jesper Juul:"Man kann seine Kinder auch einfach nur genießen"

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Der dänische Familientherapeut Jesper Juul rät Eltern zu mehr Gelassenheit in der Erziehung und zu einem Umgang auf Augenhöhe.

Christina Berndt

Der Retter bittet seinen Gast aufs Hotelzimmer. Nur da kann Jesper Juul, der unerschütterliche Helfer verzweifelter Eltern, ungestört rauchen. Gerade ist der dänische Familientherapeut auf Deutschlandreise, um für sein neuestes Buch "Eltern-Coaching - Gelassen erziehen" (Verlag Beltz) zu werben. Darin dokumentiert der 62-Jährige Beratungsgespräche mit Familien, die in Erziehungsfragen nicht mehr weiterwissen. Längst reißen sich Eltern, Pädagogen und Journalisten um den Mann, der - wenn er seinem Hang zum Nikotin frönen kann - physisch und psychisch wie ein Fels in der Brandung wirkt. In aller Seelenruhe erklärt der "Papst der Gelassenheit" die Welt der Kinder von heute und was ihnen einen guten Platz in der Welt verschafft.

Ein Ruhepol in der aufgeheizten Erziehungsdiskussion: Jesper Juul rät Eltern, vor allem authentisch zu sein: "Kinder haben kein Problem mit unseren Fehlern, solange wir zu unserer Verwirrung stehen." (Foto: Lucarelli / CC-BY-SA-3.0)

SZ: Unermüdlich plädieren Sie in der aufgeheizten Erziehungsdiskussion für mehr Gelassenheit. Aber finden Sie Kinder nicht manchmal unglaublich nervig?

Juul: Doch. Keine Frage. Man hat nicht mehr viel Aufmerksamkeit für sich selbst übrig, wenn man Kinder hat. Ich glaube, das ist das eigentlich Anstrengende. Aber viele Eltern machen es heute auch anstrengender, als es sein muss.

SZ: Wo ist das rechte Maß?

Juul: Wenn die Erwachsenen nicht genug Zeit für sich selbst haben und die Eltern nicht für sich als Paar, dann widmen sie den Kindern unter Garantie zu viel Aufmerksamkeit. Ohnehin tun sie ihnen keinen Gefallen damit. Kein Kind will Aufmerksamkeit. Es braucht Beziehung, es will am Leben seiner Eltern teilhaben. Besonders wenn Kinder im Kindergarten oder der Krippe sind, brauchen sie dringend Zeit mit Erwachsenen, die ein Erwachsenenleben leben. Im Kindergarten lernen Kinder viel über Kindsein. Sie singen, sie tanzen. Aber sie lernen nichts über Erwachsene. Wir sehen schon die ersten Folgen. Viele Jugendliche haben keine Lebenskompetenz. Sie werden depressiv, weil sie nicht wissen, wie man mit Enttäuschungen umgeht.

SZ: Lernen die Kinder das nicht in der Krippe? Da gibt es doch ganz viel Enttäuschung, Frust, Konkurrenz.

Juul: Da lernen sie, frustriert zu sein. Aber sie lernen nicht, wie man damit umgehen kann. Dazu brauchen die Kinder ihre Eltern. Das ist genau dasselbe mit Stress. Auch damit müssen sie umgehen lernen. Kinder haben heute ein stressiges Leben. Bis sie 15 Jahre alt sind, verbringen sie bis zu 25000 Stunden in pädagogischen Einrichtungen. Das ist Arbeit.

SZ: Weil es anstrengend ist?

Juul: Weil da viele Kinder und Erwachsene sind, die man sich nicht aussuchen kann. Und weil es viele Anregungen gibt. Die Kinder werden süchtig danach. Sie jammern schon beim Abholen: Was machen wir jetzt? Es ist wichtig, dass die Eltern auch mal sagen: Jetzt musst du alleine spielen. Ich will jetzt kochen oder eine halbe Stunde für mich sein. So lernen Kinder, wie man ein Leben als Erwachsener leben kann. Kinder können viel mehr Stress ertragen als wir, viel viel mehr...

SZ: ...den Eindruck haben junge Mütter jeden Tag...

Juul (lacht): Aber sie müssen auch lernen, wie man runterkommen kann. Man kann seinen Kindern sagen: Ich bin so gestresst heute. Kannst du mir helfen? Dann nimmt man die Hand des Kindes und legt sie sich auf den Bauch und atmet einfach ein paar Minuten. Später kann man das dann umgekehrt machen. Willst du eine Hand? Und dann hat das Kind etwas sehr Wertvolles gelernt.

SZ: Für Eltern ist Erziehung oft Stress.

Juul: Sie sind nicht von der Erziehung gestresst, sondern vom Erfolgsdruck. Drei Tage schlafen meine Kinder schon nicht ein. Bin ich eine schlechte Mutter? Was uns so anstrengt, ist ja diese Verpflichtung, zu erziehen. Dabei kann ich mir auch vornehmen, meine Kinder in den kommenden Wochen einfach zu genießen. Dann lerne ich, dass es auf meine Haltung ankommt. Was Kinder wirklich brauchen, ist, dass sie einfach nur dabei sind und die Eltern sich über sie freuen.

SZ: Wer erziehen will, hat ohnehin den Eindruck, dass es zum einen Ohr rein und zum andern wieder raus geht.

Juul: Das Allermeiste, was wir unter Erziehung verstehen, erzieht in der Tat kaum. Wie sich unsere Kinder als 20-Jährige verhalten, ist nicht die Folge der Erziehung, sondern unseres Zusammenlebens in der Familie. Wir sind Vorbilder, gute und schlechte, 24 Stunden am Tag.

SZ: Wir wären lieber gute Vorbilder.

Juul: Das ist so eine romantische Idee, aber es ist unmöglich. Wir sind einfach Vorbilder, punktum. Es gibt kein richtig und falsch.

Kinder haben keine Probleme mit Fehlern, solange wir die Verantwortung dafür übernehmen und zu unserer Verwirrung und unseren Grenzen stehen. Wenn Eltern das nicht tun, fühlen sich die Kinder schuldig.

Das meiste, was wir heute gut machen, haben wir doch durch schlechte Vorbilder gelernt, von denen wir sagen: So will ich nicht sein.

SZ: Sie sagen, Sie selbst waren am Anfang ein furchtbarer Vater. Warum?

Juul: Ich war immer frustriert. Ich wusste zum Beispiel gar nicht, wie man mit einem Kind spielt, und fühlte mich immer unwohl dabei. Aber durch meine Ausbildung zum Familientherapeuten habe ich erkannt: Ich kann das ja alles von meinem Sohn lernen. Ich habe ihn einfach gefragt: Ich weiß nicht, wie das geht. Zeigst du es mir? Und er war froh.

SZ: Klar war er froh. Kinder kommandieren einen ja gerne herum.

Juul: Und das ist wichtig. So kommen wir mit ihnen ins Gespräch. Das Entscheidende für mein Verhältnis zu meinem Sohn ist nicht, was ich richtig oder falsch gemacht habe. Sondern dass ich Vatersein mit ihm gelernt habe. Dieser gemeinsame Lernprozess macht sehr gute Beziehungen. Wenn ich der Lehrer bin und er der Schüler, haben wir keine Beziehung, dann spielen wir Rollen. Das heißt nun nicht, dass die Kinder die Autorität haben sollen. Es heißt nur: Nimm das Feedback von deinem Kind ernst!

SZ: Welches Feedback meinen Sie? "Ich will aber nicht ins Bett"..?

Juul: Auch das. Wenn ich wochenlang vergeblich versuche, mein Kind zu einer ordentlichen Zeit ins Bett zu bringen, kann ich es fragen, selbst wenn es noch nicht reden kann: Sag mal, jetzt kämpfen wir hier jeden Abend stundenlang. So ein Vater will ich nicht sein. Aber ich weiß nicht, was ich tun soll. Und man darf auch gerne ein bisschen heulen. So ein Gespräch wirkt unheimlich konstruktiv.

SZ: Es schafft Kontakt statt Distanz.

Juul: Ja, und oft dreht sich das Kind um und schläft. Früher hätten wir das Kind bestraft.

Aber stellen Sie sich vor, ein Mann hört laut Musik. Dann kommt seine Frau und schimpft: Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass ich keine laute Musik mag? Zur Strafe darfst du heute Abend keine Sportschau gucken.

SZ: Wollen Sie damit sagen, dass die Beziehung zwischen Erwachsenen der zwischen Eltern und Kind gleicht?

Juul: Die grundlegenden Elemente sind dieselben. Es geht darum, anwesend zu sein, mit dem anderen im Gespräch zu stehen, den anderen zu akzeptieren.

SZ: Aber die Eltern sind doch die, die entscheiden. Ist das kein Widerspruch?

Juul: Nein, Kinder brauchen Führung. Sie sind gleichwürdig, aber nicht gleichberechtigt. Sie brauchen Eltern, die mehr oder weniger wissen, was sie wollen. Es ist nicht wichtig, was sie wollen. Die Grenzen sollten sich aber nicht aus Konventionen ergeben. Es sollten persönliche Grenzen sein. Es ist völlig okay zu sagen: Ich will keine Geschichte vorlesen, weil ich Zeitung lesen will. Oder: Ich hatte dieses lange Interview mit diesem Dänen. Jetzt bin ich müde. Wir sind nun mal nicht immer glücklich. Wir sollten vor allem ehrlich miteinander sein.

SZ: Und was halten Sie von Belohnung statt Strafe?

Juul: Belohnung ist die postmoderne Version von Bestrafung. Stellen Sie sich mal vor, eine Frau würde ihrem Mann jedes Mal eine Belohnung geben, wenn er etwas richtig macht. Das ist doch keine Nähe-Beziehung. Das ist ein Verhältnis wie zwischen Chef und Mitarbeiter.

SZ: Die "Tigermutter" Amy Chua, die für Zwang in der Erziehung plädiert, ist sehr ehrlich mit ihren Töchtern: Sie sagt klar, was sie von ihnen erwartet.

Juul: Das kann eine ganze Weile gutgehen - solange die Kinder funktionieren. Und das tun sie zunächst. Denn Kinder kooperieren. Immer. Sie wollen nichts mehr, als ihre Eltern glücklich zu machen. Wenn die Kinder der Tigermutter aber einen Schicksalsschlag erleiden, wissen sie damit nicht umzugehen. Sie werden vermutlich zusammenbrechen.

Wir möchten doch, dass unsere Kinder mental und psychosozial gesunde Erwachsene werden. In dem Sinn ist das Konzept der Tigermutter überhaupt nicht erfolgreich.

SZ: Aber reden ist erfolgreich?

Juul: Ja, reden und authentisch sein. Wenn man zum Beispiel Drogen- oder Mediensucht vorbeugen will, muss man in den ersten zehn Lebensjahren eine Beziehung herstellen. Mit zwölf ist es vorbei. Wenn mein Kind in der Pubertät Drogen nimmt oder zu viel fernsieht, kann ich nicht mehr darüber bestimmen. Aber wenn wir eine Beziehung haben und gegenseitigen Respekt und eine gemeinsame Sprache, können wir über meine Sorgen reden und über meinen Widerstand.

SZ: Mit trotzigen Dreijährigen ist das Reden mitunter schwieriger.

Juul: In der Autonomiephase fangen Kinder an, Selbstvertrauen aufzubauen. Wenn sie immer wieder nein sagen, heißt das nichts anderes als: Ich bin autonom. Ist das nicht wunderbar? Wenn man das so hinnimmt, passiert nichts. Aber wenn man das persönlich nimmt, wird es schwierig. Dann beginnt der Kampf.

SZ: Manchmal müssen Eltern aber etwas erreichen, zum Beispiel pünktlich zur Arbeit zu kommen.

Juul: Das passt Kindern nun mal nicht immer. Für Eltern ist es natürlich frustrierend. Aber so ist es ja auch zwischen Erwachsenen. Ich kenne keinen Mann, der nicht weiß, wie es ist, diese verdammten 20 Minuten auf seine Frau zu warten. Wenn man genügend frustriert ist, kann man sagen: Hör mal, ich mag das nicht.

SZ: Hilft das denn?

Juul: Mein Bruder ist ein gutes Beispiel. Als er einen zweiten Sohn bekam, war der ältere sehr eifersüchtig. Irgendwann hat mein Bruder dann meine Bücher gelesen. Erst sagte er, was du empfiehlst, funktioniert so nicht. Aber später hat es doch funktioniert. Da war er in Tränen ausgebrochen. Er war wirklich authentisch, als er sagte: Das macht Papa traurig. Seit dem Tag hat sein großer Sohn den kleinen nie wieder geprügelt. Authentisch zu sein ist die Lösung.

SZ: Wenn ich also will, dass sich mein Kind anzieht, sage ich, du hast jetzt fünf Minuten, dann gehen wir. Und das sollte ich dann auch unbedingt so meinen?

Juul: Ja genau, und in diesen Minuten muss ich das Kind gewähren lassen und nicht weiter auf es einreden. Wenn Kinder keine Möglichkeit haben, nein zu sagen, können sie nicht ja sagen. Dann können sie höchstens jawohl sagen. Aber sie wissen: So bin ich ja nichts, so bin ich nur ein Soldat. Es ist ungeheuer wichtig, dass Eltern über sich selbst reden: Mir ist es nicht gelungen, dich davon zu überzeugen, dass du dich freiwillig anziehst.

SZ: Und was sollte man nicht sagen?

Juul: Du bist unmöglich, ist so ein Satz. Das ist abwertend. Kinder sind ja verwundbar, die sind offen. Warum haben wir als Erwachsene Angst? Weil uns unsere Eltern immer so verletzt haben.

SZ: Man darf weinen, schreien, toben?

Juul: Ja, alles. Man darf das Kind nur nicht verletzen und kränken. Neoromantiker glauben, ihre Gefühle schaden dem Kind. Aber die Abwesenheit von Gefühlen schadet dem Kind.

© SZ vom 19.02.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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