Demnach ist die Filterblase zunächst etwas Natürliches, ein Abbild der Vielfalt, und kein Problem, das sich lösen lässt. Es spricht einiges dafür, dass das Phänomen früher sogar stärker war als heute. Ein deutscher Soldat, der im Ersten Weltkrieg gegen die Franzosen kämpfte, hatte keine Möglichkeit, das ihm vermittelte Weltbild von Freund und Feind infrage zu stellen - das Erste, was er vom Gegner sah, war dessen Bajonett. Nicht viel Zeit für Austausch, das galt nicht nur für den Fußsoldaten.
Auch die Generäle igelten sich in ihren wirklichkeitsfremden Plänen ein und brüteten noch über Kesselschlachten, als der Krieg längst verloren war - die Militärs lebten in ihrer eigenen Filterblase, bis sie die Realität einholte. Ähnliches wiederholte sich dann im Zweiten Weltkrieg. Die Geschichte ist voll von Fehlentscheidungen, die kleine Gruppen ähnlich denkender Menschen getroffen haben. Die Erfahrungen aus bewaffneten Konflikten führten im 20. Jahrhundert wesentlich zur Entstehung einer Theorie des Gruppendenkens, das sich von der Realität lösen kann - lange vor dem Internet. Im Alltag ist das Phänomen in abgeschwächter Form als selektive Informationssuche bekannt: Man sucht bevorzugt Informationen, die mit dem eigenen Weltbild übereinstimmen. "Facebooks vielgescholtene Algorithmen sind nur die Automatisierung und Verstetigung eines menschlichen Impulses", hat die Neue Zürcher Zeitung dazu geschrieben. Die Filterblase sei "kein technisches, sondern ein anthropologisches Problem".
Warum ist es trotzdem so ein Schock, wenn das Wall Street Journal einen "Blue Feed" (Facebook-Stream eines Demokraten) einem "Red Feed" eines Republikaners gegenüberstellt? Heller Wahnsinn, die sehen ja unterschiedliche Sachen! Vermutlich hängt die Aufregung damit zusammen, dass Medien wie Facebook diese Perspektiven in ihrer Radikalität nun so brutal sichtbar machen, während man sie früher nur vermutete. Am Stammtisch wurde und wird nach wie vor Unsinn geschwätzt, nur bekommt das halt kaum einer mit.
Die Existenz unterschiedlicher Netzrealitäten gilt als Problem
"Das Problem mit der Metapher der Filterblase ist, dass angenommen wird, Menschen seien perfekt von anderen Perspektiven abgeschottet", schreibt der Kommunikationsforscher Kelly Garrett von der Ohio State University in einem Kommentar. Dabei bekämen Einzelne im Netz fast immer Informationen zu sehen, die ihren eigenen politischen Einstellungen zuwiderlaufen.
Man könnte also auch behaupten, dass soziale Medien erstmals so etwas wie ein Guckloch in den einzelnen Blasen aufreißen - also einen winzigen Türspion, der die Chance bietet, seinen eigenen digitalen Stammtisch zu verlassen und so Vorurteile über die vermeintlich so fremde Welt zurechtzurücken. Die sozialen Medien ermöglichen es, unbekannte Perspektiven nachzubilden - vor allem von Milieus, die den klassischen Medien sonst verschlossen bleiben. Und so zu verstehen, welche Probleme etwa einen weißen Fabrikarbeiter aus Detroit beschäftigen. Oder einen chinesischen Parteifunktionär. Oder einen AfD-Anhänger aus Brandenburg.
Anstatt dies zu erkennen, wird die Existenz unterschiedlicher Netzrealitäten problematisiert. Paradoxerweise üben vor allem politisch eher linksliberal eingestellte Autoren Kritik an sozialen Netzwerken, obwohl sie sonst gerne die Vielfalt der Meinungen feiern. Doch was wäre die Alternative zur Filterblase? Ein einziger Stream auf Facebook, eine genormte Meinung zu Migration, Gender, AfD? Wer das will, stärkt genau jene Politikverdrossenheit und Elitenfeindlichkeit, die den Aufstieg eines Trump oder einer Le Pen erst ermöglicht haben.