Süddeutsche Zeitung

Erdgas:Die größten Methan-Lecks der Welt

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Mithilfe von Satellitendaten sind Forscher den Urhebern einer extrem klimaschädlichen Praxis auf die Spur gekommen: dem Verklappen von Erdgas in die Atmosphäre. Neben Russland sticht besonders ein Staat am Kaspischen Meer hervor.

Von Christoph von Eichhorn

Ist Erdgas nachhaltig? Zeitweilig ja, findet die EU-Kommission: Zumindest bis 2035 sollen neue Gaskraftwerke laut einem diese Woche veröffentlichten Gesetzentwurf als klimafreundlich gelten, wenn sie gewisse Auflagen erfüllen - etwa wenn sie noch schmutzigere Kohlekraftwerke ersetzen. Eine aktuelle Studie im Wissenschaftsjournal Science wirft jedoch neue Fragen zum Energieträger Erdgas auf. Insbesondere die Förderung und der Transport des fossilen Brennstoffs verursachen demnach vielerorts mehr klimaschädliche Treibhausgas-Emissionen als bislang bekannt.

Die Klimaforscher um Thomas Lauvaux von der Universität Paris-Saclay konzentrierten sich in der Studie auf sogenannte "Ultra-Emittenten" von Methan: Quellen, aus denen besonders viel von dem Gas in die Luft strömt. Methan (CH₄) ist ein Hauptbestandteil von Erdgas und zugleich ein Treibhausgas, das auf 20 Jahre gerechnet die Atmosphäre 80 Mal so stark aufheizt wie die gleiche Menge Kohlendioxid (CO₂). Zwar bleibt Methan nur vergleichsweise kurz in der Atmosphäre, allerdings sind die globalen Emissionen in den vergangenen Jahren immer weiter gestiegen. So geraten jedes Jahr weitere 50 Millionen Tonnen Methan in die Atmosphäre, was wesentlich zur Erderwärmung beiträgt. Neben der Landwirtschaft und Mülldeponien macht die Öl- und Gasindustrie eine Hauptquelle der Emissionen aus. Oftmals entweicht das Methan unbemerkt und taucht daher auch nicht in Treibhausgas-Bilanzen auf.

Die Wissenschaftler um Lauvaux durchsuchten die Aufzeichnungen des 2018 gestarteten europäischen Erdbeobachtungssatelliten Sentinel-5P nach Hinweisen auf solche Quellen. Innerhalb des Beobachtungszeitraums von 2019 bis 2020 entdeckten sie weltweit rund 1800 sehr große Methan-Lecks, aus denen jeweils mehr als 25 Tonnen Gas pro Stunde strömte. Zwei Drittel dieser Quellen liegen in der Nähe von Infrastruktur zur Öl- und Gasverarbeitung. Ein großer Teil der "Anomalien" konzentriere sich auf wenige Staaten: Russland, Turkmenistan, die USA, Iran, Kasachstan und Algerien.

Es wäre sogar profitabel, die Lecks zu schließen - dennoch verzichten Ölfirmen häufig darauf

Insbesondere die Werte über Turkmenistan stechen hervor. Die Forscher schätzen, dass "Ultra-Emittenten" in dem autoritär regierten Staat am Kaspischen Meer für 1,3 Millionen Tonnen Methan pro Jahr verantwortlich sind. Damit lägen die tatsächlichen Emissionen aus der turkmenischen Öl- und Gasindustrie doppelt so hoch wie offiziell angegeben. "Diese enormen Lecks in Turkmenistan haben die wissenschaftliche Community überrascht. Das scheint mehr oder weniger absichtlich zu passieren", sagt Lena Höglund-Isaksson, die am International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA) im österreichischen Laxenburg zu Treibhausgasen forscht.

Aber warum sollte jemand Gas in die Atmosphäre entfleuchen lassen, wenn man es auch verkaufen könnte? Doch warum Gas wegwerfen? Dies geschieht sogar häufig, wenn Firmen eigentlich auf der Suche nach Öl sind. Auch auf Ölfeldern strömt eine Menge "assoziiertes Gas" an die Oberfläche. Um zu verhindern, dass es direkt in die Atmosphäre gelangt, müssten die Bohrtrupps es entweder abfackeln - eine Praxis, die als "Flaring" bekannt ist - oder auffangen, was Tanks oder Pipelines erfordert. Die Studie in Science zeigt zwar, dass sich solche Investitionen praktisch immer auszahlen, weil man das aufgefangene Gas deutlich teurer als die Investitionskosten verkaufen kann. Allerdings sind die Gewinnmargen dabei meist geringer, als wenn man die Lecks ignoriert und die Förderung ausweitet. "Es ist schlichtweg noch profitabler, mehr Löcher zu bohren und mehr Öl raufzupumpen", fasst Höglund-Isaksson zusammen.

Turkmenistan steht offenbar an der Spitze dieser Praxis, gefolgt von Russland, wo durch große Gaslecks rund eine Million Tonnen Methan im Jahr entweichen. Dies kann auch durch Wartungsarbeiten an Tanks oder Röhren passieren, wenn kaum auf ausströmendes Gas geachtet wird. Die größten Lecks können Hunderte Tonnen Gas pro Stunde freisetzen und mehrere Hundert Kilometer lange Gasfahnen erzeugen. Mit weitem Abstand auf Platz drei liegen die USA, allerdings nahmen die Forscher das größte amerikanische Fördergebiet, das Perm-Becken im Westen von Texas und in Teilen New Mexicos, von der Analyse aus. Dort liegen die Fördertürme so nah beieinander, dass eine Abgrenzung einzelner Lecks nicht möglich war. In einem begleitenden Kommentar in Science weist der Klimaforscher Felix Vogel vom kanadischen Umweltministerium aber darauf hin, dass auch "Tausende Öl- und Gasquellen in Kanada und die Erdgas-Transport-Infrastruktur in US-Städten" zu den Superemittenten zählen.

Ein weltweites Inventar von Methan-Quellen könnte laut Vogel entscheidend sein, um die größten Emittenten zur Rechenschaft zu ziehen. Bis vor Kurzem sei es kaum möglich gewesen, derartige Lecks nachzuweisen, sagt Lena Höglund-Isaksson. "Die Möglichkeit, endlich die Methan-Verklappungen zu sehen, ist ein großer Durchbruch." In den kommenden Jahren wird erwartet, dass neue Satelliten ein noch genaueres Bild liefern - dann dürfte es möglich sein, die Emissionen sogar einzelnen Unternehmen zuzuordnen.

Laut einem Bericht des UN-Umweltprogramms müssen neben den CO₂-Emissionen, die den größten Teil zum Treibhauseffekt beisteuern, auch die Methan-Emissionen schnell sinken, damit die Ziele des Pariser Klimavertrags noch erreicht werden können. "Die Öl- und Gasindustrie dazu zu verpflichten", sagt Höglund-Isaksson, "ist der günstigste, einfachste Weg dafür."

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