Süddeutsche Zeitung

Erderwärmung:Mangelhafte Pläne

Zwei Drittel aller nationalen Maßnahmenpakete zum Klimaschutz sind ungenügend. Mehr als 11 000 Wissenschaftler warnen vor dem "Klima-Notfall".

Von Christopher Schrader

Zurzeit läuft die Vorbereitung auf die Vorbereitung. Zum einen arrangieren gerade Hunderte Delegationen ihre Reise zum Klimagipfel Anfang Dezember, der eben erst von Santiago de Chile nach Madrid verlegt wurde. Zum anderen dient der Gipfel 2019 dazu, den Gipfel 2020 vorzubereiten. Dort müssen alle Unterzeichner des Pariser Klimaabkommens neue, möglichst ehrgeizige Pläne vorlegen, wie sie die Treibhausgas-Emissionen ihres Landes weiter reduzieren. In Madrid werden also viele allgemeine Aufrufe zu mehr Engagement im Klimaschutz erschallen. Aber vermutlich wenige konkrete Bekenntnisse.

In dieser Situation stellt ein Team von Autoren fest: Zwei Drittel der 184 nationalen Pläne zum Klimaschutz sind ungeeignet, den Klimawandel auch nur zu bremsen. Der Treibhausgas-Ausstoß werde den Zusagen der Staaten zufolge bis 2030 noch steigen. Dabei müsste er schnellstens sinken, um den Klimawandel noch auf ein erträgliches Maß zu begrenzen. Der Bericht mit dem Titel "Die Wahrheit hinter den Klima-Zusagen" stammt von fünf prominenten Wissenschaftlern.

Von den großen Treibhausgas-Verursachern hat demnach nur die EU, auf Platz drei bei den Emissionen, ausreichende Pläne vorgelegt. Die Zusagen Chinas (Platz eins) und Indiens (Platz vier) sehen hingegen vor, dass der eigene Ausstoß noch steigt. Das gilt auch für Russland (Platz fünf), das zwar einen Plan gefasst, aber noch nicht beim Klimasekretariat der UN in Bonn eingereicht hat. Das Verhalten der USA (Platz zwei) sei unzulänglich, weil Präsident Donald Trump das Land aus dem Pariser Vertrag löst.

Der weltweite Ausstoß an Treibhausgasen lag 2017 bei etwas mehr als 50 Milliarden Tonnen CO₂-Äquivalenten. Dem Report zufolge könnte die Zahl bis 2030 auf ungefähr 54 Milliarden Tonnen steigen. "Mit den momentanen Zusagen lassen sich die Herausforderung des Klimawandels nicht bewältigen", sagt Nebojsa Nakicenovic, langjähriger leitender Autor beim Weltklimarat IPCC und Professor für Energiewirtschaft an der Technischen Universität Wien. Um die Erhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen, wie im Pariser Klimavertrag angestrebt, "müssten die Emissionen sich im nächsten Jahrzehnt halbieren".

Der Pariser Vertrag von 2015 besteht im Kern aus den gemeinsam festgelegten Temperaturgrenzen sowie freiwilligen Zusagen der einzelnen Staaten, welchen Beitrag sie leisten wollen. Außer einem möglichen Imageverlust gibt es keine Sanktionen für Nationen, deren Pläne nicht ausreichen oder die ihre eigenen Ziele verfehlen.

Wegen des Wirtschaftswachstums werden die Emissionen Indiens und Chinas wohl weiter steigen

So klafft eine Lücke zwischen den Zielen des Pariser Vertrages und den nationalen Zusagen. Der neue Report ist nicht der erste, der sie beklagt. Die Umweltorganisation der Vereinten Nationen Unep veröffentlicht jährlich den "Emissions Gap Report". Details finden sich darin allerdings nur zu den G-20-Staaten, die knapp 80 Prozent der Emissionen verursachen. Die Staaten werden zudem nur an ihren eigenen Zielen gemessen; ob sie ausreichen, um den Klimawandel zu bremsen, beurteilt die Unep nur für die gesamte Weltgemeinschaft.

Die Autorinnen des neuen Berichts haben dagegen alle vorhandenen Zusagen bewertet. So haben China und Indien lediglich zugesagt, die Menge des freigesetzten Kohlendioxids pro Dollar Wirtschaftsleistung zu senken, also die relativen Emissionen. Wegen ihres starken Wachstums ist der absolute Ausstoß beider Länder seit 2005 um etwa 80 Prozent gestiegen. Immerhin verspricht China, dass die freigesetzten Mengen spätestens von 2030 an sinken. Der Report beurteilt die indischen und chinesischen Pläne als ungenügend. Bei 36 Staaten lassen sich den Selbstverpflichtungen überhaupt keine konkreten Reduktionszusagen entnehmen, zum Beispiel bei Südafrika und Kuba. Fünf Golfstaaten wie Saudi-Arabien und Kuwait bieten explizit keine Senkung an.

Tausende Wissenschaftler erklären "Klima-Notfall"

Mehr als 11 000 Wissenschaftler aus 153 Ländern, darunter 871 Forscher deutscher Universitäten und Institute, warnen in einer Erklärung vor einem weltweiten "Klima-Notfall". Wenn sich das menschliche Verhalten nicht grundlegend und anhaltend verändere, sei "unsägliches menschliches Leid" nicht mehr zu verhindern, heißt es in der am Dienstag veröffentlichten Erklärung. "Wissenschaftler haben eine moralische Pflicht, die Menschheit vor jeglicher katastrophaler Bedrohung zu warnen", sagte Ko-Autor Thomas Newsome von der University of Sydney. "Aus den vorliegenden Daten wird klar, dass wir einem Klima-Notfall gegenüberstehen."

Die Forscher fordern in ihrem Beitrag im Fachjournal "BioScience" Veränderungen vor allem in sechs Bereichen: Umstieg auf erneuerbare Energien, Reduzierung des Ausstoßes von Stoffen wie Methan und Ruß, besserer Schutz von Ökosystemen wie Wäldern und Mooren, Konsum von mehr pflanzlichen und weniger tierischen Produkten, nachhaltige Veränderung der Weltwirtschaft und Eindämmung des Anwachsens der Weltbevölkerung.

dpa

Daneben machen 70 vor allem arme Länder mit geringem Ausstoß ihre nationalen Ziele davon abhängig, ob sie die von den Industriestaaten zugesagte finanzielle Hilfe bekommen. Der entsprechende Fonds füllt sich aber nur schleppend. 13 weitere Nationen, darunter Russland und die Türkei, blieben bei der Bewertung außen vor, weil sie keine rechtlich gültigen Zusagen eingereicht haben. Sie haben zwar das Pariser Abkommen unterzeichnet, teilweise auch ratifiziert, und nationale Pläne beschlossen, müssen diese aber dem Klimasekretariat noch übermitteln. 20 Länder landen in einer Mittelgruppe, weil sie zwar den Ausstoß senken wollen, aber nicht genug. Dazu gehören Japan, Brasilien, Australien, Südkorea und Kanada. Bei Brasilien sieht der Report die Gefahr, dass sich die Regierung Bolsonaro im Stil der USA von den Zusagen ihrer Vorgänger abwendet. Positiv bewerten die Prüfer außer der EU nur Island, Norwegen, die Schweiz, Liechtenstein, Monaco, die Ukraine und Moldawien. Sie alle streben Reduktionen von 40 Prozent oder mehr an.

Das Bewertungsprinzip des Reports - alle sollen den Ausstoß um mindestens 40 Prozent reduzieren - klingt zwar gerecht, entspricht aber nicht dem Geist der Pariser Vertrags. In den Klimaverhandlungen gilt das Prinzip, dass alle Staaten der Welt die "gemeinsame, aber differenzierte Verantwortung" haben, einen gefährlichen Klimawandel zu verhindern. Hinter der diplomatischen Formel verbirgt sich der Gedanke, dass die Industriestaaten durch ihre Geschichte und wegen ihres heutigen Wohlstands viel mehr zum Problem der steigenden Temperaturen beigetragen haben als Entwicklungsländer. Sie müssen also auch mehr zur Lösung beitragen. Daher ist es zumindest fragwürdig, arme Staaten in Afrika nach dem gleichen Kriterium zu messen wie die reichen Länder in Europa.

"Die Frage, was für ein Land ein ehrgeiziger und fairer Beitrag ist, steht seit Jahrzehnten im Mittelpunkt der Klimadebatte", sagt Niklas Höhne vom New Climate Institute in Köln. "Aber es spielt eigentlich keine Rolle mehr, welche Perspektive man einnimmt: Die meisten Beiträge der Länder sind in keiner einzigen Perspektive fair. Alle müssen massiv nachlegen."

Selbst wenn alle vorliegenden nationalen Zusagen eingehalten werden, dürfte es bis 2100 auf einen globalen Temperaturanstieg um drei bis vier Grad Celsius hinauslaufen. Das beschlossene Ziel von höchstens plus 1,5 bis zwei Grad würde schon in der Mitte des Jahrhunderts krachend verfehlt.

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Quelle:
SZ vom 07.11.2019
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