Erdbeben in der Türkei:"Natur und Mensch befinden sich in einem Tauziehen"

Erdbeben in der Türkei: Geophysiker erwarten, dass auch Istanbul irgendwann von einem starken erdbeben erschüttert wird.

Geophysiker erwarten, dass auch Istanbul irgendwann von einem starken erdbeben erschüttert wird.

(Foto: Tolga Ildun/Imago)

Die Geowissenschaftlerin Derya Gürer erklärt, wie sich das verheerende Erdbeben in der Türkei in die geologische Geschichte des Landes einfügt und warum es in Zukunft helfen könnte, in längeren Zeiträumen zu denken.

Von Benjamin von Brackel

SZ: Frau Gürer, Sie haben mehrere Sommer in den Bergen Zentral- und Ostanatoliens verbracht, um dort die tektonische Geschichte zu erforschen. Wie reiht sich das Erdbeben vom 6. Februar denn in die vergangenen 100 Millionen Jahre ein?

Derya Gürer: Die geologische Geschichte Anatoliens ist ein anhaltender Tanz von Mosaikstücken verschiedener tektonischer Platten. Diese bewegen sich über geologische Zeiträume von Millionen Jahren entlang Störungszonen und verhaken sich dabei. Gelegentlich bauen sich so große Spannungen in der Erdkruste auf, dass sie während Erdbeben innerhalb von Minuten freigesetzt werden. Und das hat mit einer tektonischen Kettenreaktion zu tun, die vor vielen Millionen Jahren begonnen hat.

Was hat es mit dieser auf sich?

Einst befand sich im Süden Europas ein riesiges Meer, das Tethys-Meer. Weil aber die afrikanische Platte nach Norden wanderte, wurde der Ozeanboden entlang einer Subduktionszone in den Untergrund gezogen und verschwand irgendwann ganz. In der Folge begannen die kontinentalen Platten zu kollidieren. Bei dem tektonischen Tauziehen kommt es zur Drehung und Reibung. Die arabische Platte drückt von Südosten und die Subduktionszonen ziehen vom Südwesten. Die Folgen davon konnte ich selbst sehen: Entlang der ostanatolischen Verwerfung wanderte ich auf einer Gebirgskette, die sich seit Millionen von Jahren durch die Plattenkollision aufgetürmt hatte. Auch die jüngsten Erdbeben sind eine Folge davon. Das sind im Prinzip alles Reorganisationen dieser Kettenreaktion, die sich seit über 100 Millionen Jahre abspielt.

Erdbeben in der Türkei: Derya Gürer ist in Istanbul geboren, hat in Bonn, Oslo und Canberra Geologie studiert und sich an der Universität von Utrecht auf die Plattentektonik spezialisiert.

Derya Gürer ist in Istanbul geboren, hat in Bonn, Oslo und Canberra Geologie studiert und sich an der Universität von Utrecht auf die Plattentektonik spezialisiert.

(Foto: privat)

Lässt die geologische Perspektive Platz für die menschliche Tragödie?

Ganz ehrlich: Es bricht mir das Herz, den Schmerz und das Leiden zu sehen, das die Menschen dort durchmachen. Ich habe selbst Bekannte und Freunde in der Region. Als Geologin hilft es mir aber, alles im Kontext einer Kettenreaktion und uns selbst als Glied davon zu sehen. Erdbeben sind Naturphänomene, Gebäude sind menschengemacht. Hier befinden sich Natur und Mensch in einem Tauziehen. Das Verständnis der Gründe hinter diesen tragischen Ereignissen könnte helfen, die schrecklichen Ereignisse zu verarbeiten und aus ihnen zu lernen.

Das müssen Sie erklären.

Viele Menschen in der Türkei oder Syrien fühlen sich ohnmächtig, weil sie nicht wissen, wieso der Schaden so groß ist. Sie dachten, dass die Gebäude erdbebensicher sind. Andere haben die Gefahren schlicht nicht ernst genommen, weil das letzte große Erdbeben in der Region so lange zurückliegt. Es gibt eine Kluft zwischen dem, was Geologinnen und Geologen seit Langem sagen, und dem praktischen Umgang mit den Gefahren. Wir müssen lernen, in geologischen Zeiträumen zu denken. Und dass das Erdbeben Teil der Natur ist, wie auch wir Teil der Natur sind. Das könnte in Zukunft Menschenleben retten.

Wie denn?

Die Geologie bestimmt zum Beispiel, wo hartes und wo loses Gestein ist. Wenn Plattenbewegungen über Jahrmillionen ganze Gebirge versetzen und Gestein zermürben, füllen sich die tiefer liegenden Becken mit Sediment. Während eines Erbebens wird das alles aufgerüttelt und instabil. Das kennt jeder, der am Strand den Fuß anhebt und sieht, wie von unten Wasser aufquillt. Einige der betroffenen Städte in der Türkei stehen nicht auf festem Boden.

Deshalb sind die Häuser umgekippt?

Das hat mit Sicherheit dazu beigetragen. Aber der Hauptgrund ist natürlich, wie und zu einem Teil auch wo diese Häuser gebaut sind. Es gibt zwar Vorschriften, wie Häuser konstruiert werden sollten, nur wurden diese in vielen Fällen leider nicht eingehalten. Ein Land wie Japan beweist, dass man erdbebensicher bauen kann.

Kommt diese Botschaft bei den Türkinnen und Türken an?

In einigen Fällen haben türkische Medien die wissenschaftlichen Fakten verdreht, Aussagen von Experten herausgepickt und politisiert. Es wurde zum Beispiel behauptet, dass das Erdbeben zu groß war, um sich darauf vorbereiten zu können. Deshalb sei es kein Wunder gewesen, dass so viele Gebäude eingestürzt seien. Viele Leute schenken dem Glauben und halten das Erdbeben für eine Strafe Gottes. Aber jene Aussagen haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler so nicht gemacht! Das hat Unmut bei vielen meiner Kolleginnen und Kollegen ausgelöst. Seit Längerem leidet die Forschungsarbeit in der Türkei und in Syrien unter den politischen Spannungen. Das ist bedenklich, da es heute mehr denn je Geowissenschaftlerinnen und Geowissenschaftler braucht.

Wieso denn?

Entlang einer anderen Störungszone - der nordanatolischen Verwerfung - hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine ganze Erdbebenserie ereignet, die nur einen Abschnitt ausgelassen hat. Und dieser befindet sich in unmittelbarer Nähe zur Millionenstadt Istanbul. Das Gefahrenrisiko ist dort sehr hoch, was die Arbeit von Geowissenschaftlern so wichtig macht. Ein US-Geophysiker hat berechnet, dass sich innerhalb der kommenden 30 Jahre ein Erdbeben der Magnitude 7 oder mehr mit einer Wahrscheinlichkeit von 35 bis 70 Prozent ereignen werde. Und seitdem sind fast 20 Jahre vergangen. Wenn ich in Istanbul bin, um Familie, Freunde oder Kollegen zu besuchen, sehe ich mir nicht nur den Stadtplan an, sondern auch seismische Risikokarten und Tsunamikarten. Vor Ort versuche ich immer, das Nötigste bei mir zu haben und mir über Fluchtwege bewusst zu sein.

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