Erdbeben in L'Aquila:Das Leben ist lebensgefährlich

Italienische Experten sollen ins Gefängnis, weil sie 2009 die Gefahr eines Erdbebens falsch eingeschätzt haben. Dieser bizarre Schuldspruch beruht auf der weit verbreiteten, falschen Erwartung, dass Wissenschaftler Risiken vorhersagen können. Ihre Prognosen sind aber nur Wahrscheinlichkeitsaussagen.

Christian Weber

In Trümmern: Nachdem die Erde in den italienischen Abruzzen monatelang immer wieder kurz gewackelt hatte, wurde die Region um das Städtchen L'Aquila (im Bild der Regierungspalast) am 6. April 2009 aus

In Trümmern: Nachdem die Erde in den italienischen Abruzzen monatelang immer wieder kurz gewackelt hatte, wurde die Region um das Städtchen L'Aquila (im Bild der Regierungspalast) am 6. April 2009 aus den Angeln gehoben. Bei dem schweren Beben kamen 309 Menschen ums Leben, Zehntausende verloren ihr Zuhause.

(Foto: dpa)

Sechs Jahre Haft, weil die Gefahr eines Erdbebens kleingeredet wurde? Man könnte versucht sein, das erschreckende Urteil der Richter im italienischen L'Aquila kopfschüttelnd abzuhaken; als Fehlleistung eines ignoranten Provinzgerichts. In der Geologie ist unbestritten, dass Erdbeben mit den heutigen Möglichkeiten nicht vorhersagbar sind. Forscher können lediglich anhand der plattentektonischen Verhältnisse und der historischen Schadensstatistik Risikozonen benennen, in denen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in einem langfristigen Zeitraum die Erde beben wird.

So wissen die Experten, dass in den nächsten 30 Jahren wahrscheinlich ein Großbeben die 16-Millionen-Metropole Istanbul erschüttern wird. Doch ob das Beben heute Nachmittag stattfindet oder doch erst in 32 Jahren, das kann niemand vorhersagen - und schon gar nicht rechtsverbindlich.

Der bizarre Schuldspruch offenbart jedoch auch eine weitverbreitete Fehlwahrnehmung von Wissenschaft. Sie zeigt sich zum Beispiel dann, wenn von Forschern erwartet wird, dass sie die Gefährlichkeit von Grippeepidemien oder die Stärke und die Zugrichtung von tropischen Wirbelstürmen exakt voraussagen.

Es ist eine offenbar immer noch unzureichend bekannte Einsicht, dass Risikoprognosen in empirischen Wissenschaften nur Wahrscheinlichkeitsaussagen sind. Mit diesen tut sich das menschliche Gehirn jedoch grundsätzlich schwer: Ärzte können mit Tonnen von Statistiken nachweisen, dass Alkohol und Tabak Krankheitsrisiken und Sterbezahlen erhöhen. Und dann scheint eine prominente Ausnahme wie Helmut Schmidt das ganze Theoriegerüst zu widerlegen. Andersherum wundern sich Angehörige, warum ein Herzinfarkt plötzlich den 63-jährigen Opa niedergestreckt hat, wo der sich doch immer so gesund ernährt und nie geraucht hat.

Mit ähnlichem Unverständnis ist auch die Gerichtspsychiatrie konfrontiert. Prognostiziert ein Forensiker, dass ein Mörder vermutlich nicht mehr töten wird, und das Gegenteil geschieht, so belegt das nicht unbedingt die Inkompetenz des Gutachters. Eine Rückfallwahrscheinlichkeit von zehn Prozent bedeutet statistisch, dass von 100 entlassenen schweren Straftätern zehn wieder schwer rückfällig werden.

Nun mag das Verhalten von Menschen besonders schwer vorauszusagen sein. Doch sollte man die Komplexität anderer Systeme nicht unterschätzen, seien es die biochemischen Vorgänge im Körper des Menschen, die Plattentektonik Mittelitaliens oder das Weltklima: Obwohl die Befunde zum Zusammenhang von Kohlendioxid-Ausstoß und globaler Erwärmung außerordentlich gut belegt sind, bleibt eine geringe Restwahrscheinlichkeit, dass sich die Prognosen nicht bestätigen.

Was schiefgehen kann, haben die Finanzmathematiker gezeigt, die in ihrer mit Nobelpreisen gekrönten Hybris geglaubt hatten, sie könnten mit ihren Computern das Geschehen auf den Märkten mit ausreichender Sicherheit simulieren.

Ein unerfüllbarer Wunsch

In Fällen wie in L'Aquila zeigt sich, dass die Wissenschaft überfordert ist, wenn ihr binäre Ja-Nein-Prognosen abverlangt werden. Dahinter steht der verständliche, aber unerfüllbare Wunsch von Politik und Öffentlichkeit, schwierige Entscheidungen auf die Wissenschaft abzuwälzen. Wenn einige Forscher sich durch ein solches Ansinnen geschmeichelt fühlen und sich als Cheftechnokraten der Gesellschaft gerieren, dann überdehnen sie auf unredliche Weise ihre Kompetenz.

Mehr Risiko-Wissen und statistisches Verständnis wären wichtig. Wissenschaftler sollten besser beschreiben, wo die wahren Risiken liegen und was ihre statistischen Aussagen bedeuten. Der Techniksoziologe Ortwin Renn etwa erinnert gerne an die Rinderseuche BSE, vor der sich vor einigen Jahren halb Europa gefürchtet hatte.

Die Angst vor der Gehirnerkrankung führte dazu, dass Minister ihre Posten verloren, Menschen zu Vegetariern wurden, die Fleischindustrie Milliardenverluste einfuhr. Dabei starben binnen 30 Jahren in Europa nur rund 140 Menschen an der von Prionen ausgelösten Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung. Im gleichen Zeitraum starben ähnlich viele Menschen, weil sie versehentlich Lampenöl getrunken hatten. Es dauerte Jahre, bis ein Warnhinweis auf den Flaschen klebte.

Es gibt viele solcher Beispiele; so werden die Gefahren der Luftfahrt in Umfragen notorisch überschätzt, die Folgen von Alkohol und Nikotin unterschätzt. Dennoch kann man in Flugzeugen umkommen und als Raucher alt werden.

Intelligente Menschen lassen sich Entscheidungen über Verkehrs- und Genussmittel aus diesem Grund nicht abnehmen, sondern lesen die Statistiken selber, sie sind genauer. Und sie wissen: Das Leben ist lebensgefährlich, in L'Aquila wie in Detmold.

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