Erdbeben in Japan:Fukushima-1 - eine erwartbare Katastrophe

Japans Regierung und Tepco, der Betreiber des zerstörten Atomkraftwerks Fukushima-1, hätten mit dem heftigen Erdbeben vom 11. März rechnen müssen. Das Beben sei mit 99 Prozent Wahrscheinlichkeit erwartet worden, sagen japanische Seismologen. Und auch der starke Tsunami war nicht der erste seiner Art.

Christoph Neidhart

Das Erdbeben vom 11. März, das zur dreifachen Kernschmelze in der Atomanlage Fukushima 1 führte, kann Behörden und Betreiber von Kernkraftwerken nicht überrascht haben.

Erdbeben in Japan: Qualm steig auf vom Block 3 des Atomkraftwerks Fukushima-1. Die japanische Regierung hat die Bedrohung durch die sich ausbreitende Radioaktivität in den Tagen nach den Explosionen offenbar falsch vorhergesagt - obwohl man es besser hätte wissen können, berichtet die Nachrichtenagentur AP. Deshalb wurden viele Menschen zu spät aus der Umgebung des Kraftwerks evakuiert.

Qualm steig auf vom Block 3 des Atomkraftwerks Fukushima-1. Die japanische Regierung hat die Bedrohung durch die sich ausbreitende Radioaktivität in den Tagen nach den Explosionen offenbar falsch vorhergesagt - obwohl man es besser hätte wissen können, berichtet die Nachrichtenagentur AP. Deshalb wurden viele Menschen zu spät aus der Umgebung des Kraftwerks evakuiert.

(Foto: AP)

Ein Beben sei in der Region mit 99 Prozent Wahrscheinlichkeit erwartet worden, sagen japanische Seismologen mit Verweis auf die amtliche Erdbebenrisiko-Karte der japanischen Regierung.

Es habe zudem die Wahrscheinlichkeit vergrößert, dass die Hauptstadt Tokio und der Westen Japans in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten ebenfalls von Extrembeben heimgesucht werden, erklären die Forscher Katshuhiko Ishibashi und Kenji Satake. "Ich glaube, wir sollten die japanischen Inseln deshalb AKW-frei machen", sagt Ishibashi von der Uni Kobe.

Der emeritierte Professor genießt viel Glaubwürdigkeit, hat er doch seit Jahren vor der Erdbebengefahr für Atomkraftwerke gewarnt. Er hatte sogar den Ablauf der Katastrophe von Fukushima inklusive der Wasserstoffexplosionen vorausgesagt, allerdings am Beispiel der Anlage Hamaoka, die direkt über einer Erdbebenbruchlinie steht. Hamaoka wurde auf Druck von Premier Naoto Kan im Mai abgeschaltet; die Betreiberin Chubu Electric möchte den Meiler aber möglichst bald wieder anfahren.

Das "große ostjapanische Erdbeben vor der Küste der Tohoku-Region", wie die Katastrophe vom 11. März offiziell heißt, hat eine Debatte um Erdbeben-Prognosen und -Warnungen angeheizt. Das Beben sei zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit erwartet worden, sagt Satake, allerdings habe man nur eine Stärke von etwa 7,5 erwartet.

Die Intensität 9,0 vom 11. März ist das stärkste je in Japan registrierte Beben. "Mit einer solchen Stärke hat niemand gerechnet", so Satake. Zuverlässige Prognosen über Stärke, Beschleunigung und die Richtung der Bodenbewegung seien zudem generell ausgeschlossen. Er erklärt die Stärke des Bebens damit, dass sich insgesamt vier mehr oder weniger lang erwartete Beben gleichzeitig ereignet hätten.

Robert Geller, gebürtiger Amerikaner und ebenfalls Professor an der Universität Tokio, liest die Erdbebenrisiko-Karte anders. Die Japaner müssten aufhören, von "Prognosen" zu reden; damit täusche man das Publikum.

Es habe in den vergangenen Jahrzehnten in Japan zahlreiche starke Erdbeben gegeben, die gemäß der Risikokarte der Regierung nicht zu erwarten gewesen wären. Zudem sei die Hypothese heute widerlegt, Erdbeben ereigneten sich zyklisch oder mit einer gewissen Regelmäßigkeit.

Der Konflikt um Vorhersagen und Warnungen ist ein Grundthema der Erdbebenforschung. Satakes Prognosen stützen sich fast ausschließlich auf die Statistik früherer Beben. Diesen Berechnungen fügt er hinzu, dass sich tektonische Platten stetig bewegen.

Die Pazifische Platte schiebt sich mit einer Geschwindigkeit von acht bis neun Zentimeter pro Jahr unter den Nordosten der japanischen Hauptinsel. Als sich die Spannung vor einigen Monaten schließlich entlud, schnellte der Meeresboden teilweise um bis zu sieben Meter in die Höhe, die Küstenlinie hingegen senkte sich um mehr als 50 Zentimeter ab und verschob sich um zwei Meter nach Osten.

Aus den dürren Angaben über künftige Erdbeben ist es schwer, die zu erwartende Stärke zu bestimmen. Diese in der Fachsprache Magnitude genannte Größe ist ein Maß der Energie, die bei einem Erdbeben frei wird. Ob der Erdboden, etwa am Standort eines Kernkraftwerks, stark beschleunigt wird, ist noch eine andere Frage. Es sei deshalb nicht sinnvoll, AKW-Betreibern Auflagen zu machen, die sich an der Magnitude orientieren, mahnt Ishibashi.

Geeigneter sei die horizontale und vertikale Beschleunigung des Bodens im Moment des Bebens. Von Fukushima 1 sagte Tepco vor zwei Jahren, die Reaktoren hielten einer Beschleunigung von 600 Gal stand. Ein Gal ist etwa ein Promille der Erdbeschleunigung. Tatsächlich wurden in Fukushima am 11. März Beschleunigungen bis knapp über 600 Gal gemessen. Entsprechend behauptet der Betreiber Tepco, die Reaktoren hätten die Erdstöße problemlos überstanden, erst der unerwartet hohe Tsunami habe sie beschädigt und die Kernschmelzen ausgelöst.

Flutwelle war nicht überraschend

Aber diese Behauptung bestreiten einige Fachleute. Auch Ishibashi ist überzeugt, das Erdbeben habe den Reaktorblock 1 beschädigt. Insbesondere aber widersprechen Fachleute dem Hinweis, die Flutwelle sei unerwartet hoch ausgefallen. 1896 zum Beispiel bebte die Erde an gleicher Stelle mit einer Intensität von 7,2 - etwa 65-mal schwächer als 2011 -, dennoch erreichte der folgende Tsunami eine ähnliche Wellenhöhe, teilweise sogar darüber. Anhand von Sedimentablagerungen hat man überdies nachgewiesen, dass im Jahre 869 ein in historischen Quellen erwähntes Erdbeben einen noch stärkeren Tsunami zur Folge hatte.

Wenn Erdstöße und Tsunamis also den Erwartungen der Seismologen entsprachen, dann können sich die AKW-Betreiberin Tepco und der Staat nicht in die Ausrede flüchten, das Tohoku-Beben habe Dimensionen gehabt, die niemand erwarten konnte.

Doch genau das tut die Regierung weiterhin. Der bisherige Sprecher der Agentur für nukleare Sicherheit, Hidehiko Nishiyama, beantwortete Fragen nach den historischen Tsunamis erst lange mit der Formel, man habe in Fukushima nicht mit einem solchen Tsunami rechnen können. Später milderte er die Antwort ab, man habe nicht damit gerechnet.

Die Tageszeitung Asahi schrieb freilich schon im März, die historischen Tsunamis seien im Erdbebenausschuss der Regierung durchaus zur Sprache gekommen, doch die Atomlobby habe die Diskussion unterdrückt.

Mit dem Beben vom 11. März "haben die Spannungen in der Erdkruste zugenommen", vermutet Ishibashi. Nach der Statistik wären große Erdbeben südwestlich von Tokio ohnehin "fällig". Er arbeite zudem mit der Hypothese, dass sich zwei Erdplatten im Untergrund entkoppelt haben und nun in verschiedene Richtungen driften. Das würde die Spannungen in der Erdkruste massiv verstärken, folgert der Wissenschaftler. "Nagoya, die Region um Osaka und die ganze südwestliche Küstenlinie könnten zerstört werden", warnt Ishibashi düster.

Aus Sicht eines Seismologen sind alle japanischen AKW gefährdet", sagt er. Überdies stünden nicht nur Hamaoka, sondern auch andere Reaktoren auf einer bekannten Bruchlinie, so Tsuruga und der schnelle Brüter Monju in der Präfektur Fukui. Die Wiederaufbereitungsanlage Rokkasho sei umgeben von Bruchlinien.

"Nach deutschen oder französischen Sicherheitsstandards könnte man wegen der Erdbebengefahr nirgendwo in Japan ein AKW betreiben", sagt Ishibashi. Robert Geller widerspricht, der Kollege gehe zu weit mit einem Verbot aller Kernkraftwerke. Doch auch er sagt, ein Erdbeben der Stärke neun mit einem Tsunami wie am 11. März sei überall in Japan möglich.

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