Erdbeben in Chile:Im Flugzeugtempo durch den Pazifik

Nach dem Beben in Chile rasten Wellen bis nach Asien. Warum die Auswirkungen des Tsunamis dennoch gering blieben.

Christopher Schrader

Die chilenische Stadt Concepción hat am Samstag den zweiten Eintrag in einer grausamen Hitliste bekommen: in der Liste der stärksten Erdbeben. Schon im Mai 1960 war südlich der Industriestadt die Erde aufgebrochen. Die Stärke (Magnitude) betrug damals 9,5. Es war das schwerste Beben seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Stöße von Samstag mit ihrem Epizentrum gut 100 Kilometer nördlich von Concepción und in 35 Kilometern Tiefe erreichten wohl die Stärke 8,8 - das wäre Platzfünf. Seitdem haben Dutzende Nachbeben die chilenische Küste erschüttert. Ihre Herde lagen über 500 Kilometer verteilt, das stärkste erreichte die Stärke 6,9.

Diese Erschütterungen haben eine gemeinsame Ursache: Vor der Pazifikküste Lateinamerikas taucht die Nazca-Platte unter die Südamerikanische Platte. Die beiden Teile der Erdkruste bewegen sich etwa acht Zentimeter im Jahr aufeinander zu. Während die Landmasse des Kontinents nach Westen drängt, driftet der Meeresboden nach Osten. Weil sich die Gesteinsmassen dabei verhaken, nimmt die Spannung mit jedem Jahr zu und entlädt sich in Beben.

Das jüngste hat in Chile relativ wenige Todesopfer verursacht, jedenfalls im Vergleich zu dem weitaus schwächeren Beben in Haiti im Januar. Das verdanken die Chilenen offenbar ihrer Erfahrung mit Erdstößen: Die Bausubstanz ist weitaus solider gewesen als in dem Karibikstaat. Welchen Einfluss das auf die Opferzahlen hat, zeigen die Schätzungen des Genfer Forschers Max Wyss und seiner Agentur Wapmerr, die nach Erdbeben innerhalb kurzer Zeit erste Schätzungen von Opferzahlen veröffentlicht. Für Haiti hatte sie mit bis zu 10.000 Toten gerechnet - es wurden wegen der Bauqualität weit mehr als 200.000. Für Chile nahm die Agentur an, dass etwa 6000 Menschen in einer Zone totaler Zerstörung leben. Dort rechnen die Behörden zurzeit mit einigen hundert Todesopfern.

Vom Beben bei Concepción ging aber globale Gefahr aus. "Erdstöße an solchen Subduktionszonen können Tsunamis auslösen", sagt Rainer Kind, Sektionsleiter für Seismologie am Deutschen Geoforschungszentrum (GFZ) in Potsdam. "Die Beben haben eine starke vertikale Komponente, die das Wasser erschüttert." Tatsächlich wurde darum am gesamten Pazifik Tsunami-Alarm ausgelöst. Er kam für die Küste Chiles zu spät, wo die Wellen drei Meter erreichten. Besonders in der Stadt Talcahuano wurden Schiffe an Land gehoben und Seecontainer wie Spielzeug in die Stadt geschwemmt. Der Hafen liegt am Ende einer schmalen Bucht, die sich direkt nach Norden zum Erdbebenherd öffnet.

In vielen Pazifikländern hatten Behörden Küstenstriche evakuiert; die Wellen waren dann aber fast überall recht harmlos. Sie erreichten nach widersprüchlichen Angaben anderthalb Meter auf Hawaii, einen Meter in Japan, und 40 Zentimeter in Neuseeland. Auf der russischen Halbinsel Kamtschatka wurden 80 Zentimeter gemessen; dorthin hatten die Wellen etwa 21 Stunden gebraucht - für eine Distanz von fast 16000 Kilometern.

"Tsunamis bewegen sich auf dem offenen Meer so schnell wie Verkehrsflugzeuge", sagt Rainer Kind. "Es ist, als würden Vibrationen ungedämpft durch einen Pudding gehen." Unterwegs sind die Wellen kaum zu bemerken, weil sich das Wasser nur einen Meter hebt, die Welle aber viele hundert Kilometer lang ist. Im flachem Wasser aber nimmt das Tempo abrupt ab; hintere Teile der Welle fahren sozusagen auf die Vorhut auf, und dann türmen sich mitunter wahre Wände aus Wasser an den Küsten. Ihre Höhe hängt von der lokalen Geographie ab. "Nach dem Weihnachtsbeben in Sumatra 2004 haben die Wellen in der Nähe des Herdes 20 Meter erreicht", sagt Kind.

Dass diesmal in Chile viel weniger gemessen wurde, liegt einerseits an der geringeren Stärke des Erdbebens. Das indonesische Beben hatte die Stärke 9,1; die Stärke der Erdstöße am Samstag wird noch debattiert. Das GFZ taxiert sie Kind zufolge auf 8,3, während die Bundesanstalt für Geowissenschaften in Hannover und der amerikanische geologische Dienst 8,8 angeben. Die Unterschiede sind bedeutsam, denn mit jedem Punkt der Skala nimmt die freigesetzte Energie um das Dreißigfache zu. Andererseits gibt es "keine einfache Beziehung zwischen der Magnitude und der Größe der Tsunamiwellen", sagt Kind.

Wie hoch sich das Wasser in anderen Teilen der Welt türmen wird, lässt sich vor allem aus Wogen in der Nähe des Epizentrums erschließen. "Wellen woanders konnten nur in Ausnahmefällen höher sein als in Chile selbst." Auch Bojen im offenen Meer vermögen die leichten Erhebungen der vorbeirasenden Welle zu messen. "Aber von diesen Sensoren habe ich gar nichts gehört - wo bleiben die Daten?", fragt Kind. Die Höhe der Wellen in Hawaii oder anderswo habe daher niemand gut vorhergesagt. Trotzdem wertet Kind den Alarm als Erfolg. Beim Beben von 1960 waren Japans Küstenbewohner einen Tag lang ahnungslos geblieben.

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