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Erbanlagen im Krankheitstest:"Eine gewaltige Gelegenheit, die niemand nutzt"

Der Genetiker Stephen Kingsmore löste Empörung aus, weil er Paare auf defekte Erbanlagen testen wollte, bevor sie Nachwuchs bekommen. Nun durchkämmt er das Erbgut von Kindern nach den Ursachen schwerer Krankheiten.

Christopher Schrader

Die Gentechnik hat in der Medizin die hohen Erwartungen meist enttäuscht. Doch nun propagieren ihre Befürworter, mit verbesserten Geräten nicht mehr wie bisher einzelne Erbanlagen zu testen, sondern Hunderte möglicher Mutationen auf einmal, die schwere, im klinischen Alltag oft rätselhafte Krankheiten auslösen können. Ein Vertreter dieser Idee ist der Arzt und Wissenschaftler Stephen Kingsmore. Er hatte Anfang 2011 damit Aufsehen erregt, dass er gesunde Paare auf Anlagen zu diesen Erbkrankheiten testen wollte, bevor sie Kinder bekommen. Kingsmore leitet am Children's Mercy Hospital in Kansas City das Zentrum für genomische Kindermedizin. Am Montag war er bei einer Tagung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

SZ: Dr. Kingsmore, verfolgen Sie noch die Idee, Gene von Paaren zu testen und ihnen so womöglich Angst zu machen, miteinander Kinder zu bekommen?

Stephen Kingsmore: Ich arbeite nicht mehr an einem solchen Carrier-Test. Wir suchen nunmehr nach Lösungen für akut kranke Kinder, die eine Diagnose brauchen.

Haben Sie die Richtung geändert, weil die Öffentlichkeit auf Ihren Vorschlag ablehnend bis empört reagiert hat?

Nun, in Kansas-City, wo ich jetzt arbeite, wäre für die Bevölkerung kein medizinisches Verfahren akzeptabel, das zu einer Abtreibung führen könnte. Das wäre ja möglich, wenn die Paare erst nach der Zeugung, aber noch vor der Geburt von ihren Erbanlagen erfahren. Aber wichtiger ist für mich, dass ich in einem Kinderkrankenhaus mit Ärzten arbeite, die diagnostische Hilfsmittel suchen. Das ist eine gewaltige Gelegenheit, die niemand nutzt. Daher war mein Gefühl: Lasst uns das zuerst machen, wir können später zu den Carrier-Tests zurückkommen. Erst müssen wir das Vertrauen der Gesellschaft gewinnen. Wenn wir das haben, können wir anfangen, Spermien- und Eizellspenden zu testen.

Warum konzentrieren Sie sich auf die seltenen, durch ein einziges defektes Gen ausgelösten Krankheiten?

Sie sind so etwas wie eine Teststrecke für die genomische Medizin. Wenn wir beweisen wollen, dass die Analyse des Erbguts bei der Behandlung von Patienten eine Rolle spielen kann, dann hier. Zudem betreffen diese Krankheiten in überwältigender Zahl Kinder. Wenn man 50 Jahre alt ist, wird man krank, weil man zu viel isst. Bei einem Neugeborenen ist alles Genetik.

Zuletzt war eher Ernüchterung eingetreten, weil verbreitete Krankheiten durch eine unüberschaubare Vielzahl von Genvarianten begünstigt werden.

Das stimmt, bei den komplexen Krankheiten wie Krebs, Alzheimer oder Multiple Sklerose (MS) sind wir keineswegs nahe dran, etwas zu erreichen. MS ist eigentlich ein phänomenaler Erfolg, man kennt viele Erbanlagen, die damit assoziiert sind. Aber kein Gentest erlaubt eine Aussage darüber, ob das Risiko erhöht ist, MS zu bekommen. Trotz Milliarden Dollar für die Forschung haben wir vom Standpunkt der Patienten nicht mehr geschafft als Hype.

Wie selten sind Ein-Gen-Krankheiten?

Die meisten betreffen höchstens fünf von zehntausend Menschen. Aber zusammen betrachtet sind sie gar nicht so selten. Wir schätzen, dass vier Prozent aller Kinder eine monogenetische Erkrankung haben.

Was hilft eine Diagnose, wenn es keine Therapie gibt?

Wir haben hier auf der Tagung gehört, dass es bei 500 der 7500 bekannten Ein-Gen-Leiden eine Therapie gibt. Aber in jedem Fall hat eine Diagnose eine Wirkung. Da ist immer eine Familie, die nach einer Antwort sucht. Diese hilft ihr zu verstehen, was mit dem Kind passiert. Sie kann Schuldgefühle beenden, Angst, Hoffnungslosigkeit, die Suche nach weiteren Ärzten. Das ist für Familien sehr wichtig. Sie können anfangen zu planen: Wenn sie wissen, dass ihr Kind mit 16 Jahren stirbt, legen sie in der Schule mehr Wert darauf, dass es Freunde und Lebensqualität hat, und weniger darauf, dass es gut in Algebra ist.

Sie testen inzwischen 600 Gene auf einmal. Weshalb?

So sind wir viel schneller als mit einzelnen Gentests. Wir checken die 600 bekannten Mutationen, die die größte Rolle spielen. Wenn das nicht reicht, um eine Antwort zu finden, können wir darüber hinaus nach unbekannten Auslösern suchen. Der Preis für das Sequenzieren von Genen ist um den Faktor 100 000 gesunken. Der 600-Gene-Test kostet 1250 Dollar.

Wie sind Ihre bisherigen Ergebnisse?

Wir haben das Verfahren bei 25 Familien angewandt, davon haben 15 tatsächlich eine Diagnose bekommen. In vier Fällen glauben wir, eine neue Genmutation gefunden zu haben, und in sechs Fällen konnten wir nichts machen.

Haben Sie ein Beispiel?

Unsere ersten beiden Patientinnen waren zwei Schwestern, neun und fünf Jahre alt. Die Eltern sahen hilflos zu, wie ihre Kinder dahinsiechten. Die ältere hatte nach einer normalen Entwicklung ihre Bewegungsfähigkeit verloren, die jüngere entwickelte sich verzögert. Beide verloren Hirnvolumen im Kleinhirn. Die Eltern hatten in fünf Jahren schon 23 000 Dollar für erfolglose Gentests ausgegeben. Wir aber fanden nach einigen Wochen den Defekt im Gen Aprataxin. Es hätte sogar eine Therapie gegeben: Coenzym-Q10-Tabletten für 19 Cent pro Tag. Aber was die angesichts der späten Diagnose nun noch bewirken können, wissen wir nicht.

Wenn Sie kranke Kinder auf 600 mögliche Gendefekte testen, finden Sie unter Umständen viel mehr als den Grund für die konkreten Probleme. Was sagen Sie dann den Eltern?

Wenn wir ein krankes Kind vor uns haben, wollen die Eltern wissen, was dem Kind fehlt. Sie brauchen eine genetische Beratung, denn es ist schwer für die Mütter und Väter, das zu verdauen. Ich kenne keine Familie, die dann fragt: Was haben Sie denn sonst noch gefunden?

Behalten Sie das Übrige für sich?

Wir berichten den Eltern alles, was für die Krankheit wichtig ist. Manchmal finden wir einen zweiten Gendefekt, der sie beeinflusst. Dem Gesetz nach müssen wir alle Erkenntnisse auflisten. Aber wir werten nur die Ergebnisse aus, die für das klinische Bild wichtig sind.

Sie würden also nie auf eine Krankheit stoßen, die erst bei Erwachsenen ausbricht wie Chorea Huntington?

Solche Informationen wollen wir gar nicht finden. Es gibt Richtlinien, die das verbieten. Man soll kein Kind auf Krankheiten testen, die es als Erwachsener bekommen könnte. Es kann dem Test nicht wirklich zustimmen, ethisch gesehen zwingt man ihm die Information auf.

Können Sie zu jeder der 600 Krankheiten aus dem Kopf sagen, was Ursache, Prognose und Therapie sind?

Nein, das kann ich nicht, dafür haben wir Spezialisten im Team.

Überfordert die gewaltige Menge an Information dann nicht jeden Arzt, der mit Eltern sprechen soll?

Gerade weil es die normalen Ärzte überfordert, machen wir diese Tests nur, wenn ein Genetiker von Anfang an beteiligt ist, der den Eltern sagt, was sie erwarten können und müssen. Das wiederholt sich, wenn die Resultate da sind. Die genetischen Berater können die Eltern auch auf Selbsthilfegruppen oder Webseiten hinweisen. Dann kommt es auf die Familie an: Es kann immer sein, dass sie mit diesen Angeboten nichts anfangen können. Das ist aber bei allen Krankheiten so.

Wohin führt es, wenn bald routinemäßig Tausende Gendefekte getestet werden?

Die treibende Kraft hinter der Genomik ist die Idee, dass bald jeder sein Erbgut entziffern lassen kann. Die Firmen, die das anbieten wollen, gibt es ja schon.

Halten Sie das für eine gute Idee?

Mir gefällt das nicht. Wir brauchen dringend Richtlinien dafür. Es gibt schließlich auch Regeln, wer aus welchem Grund welche Medikamente nehmen kann. Genetische Informationen haben viel Macht, sie sollten nicht in die Öffentlichkeit getragen werden.

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Quelle:
SZ vom 12.09.2012/mcs
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