Doch mit der Begeisterung nimmt auch die Kritik an der Interpretation der wissenschaftlichen Studien und den Berichten darüber zu. Zum einen ist die Epigenetik als Forschungsgebiet nicht neu. Alles "jenseits der Gene" oder "um sie herum" (wie sich Epi-Genetik übersetzen lässt) untersuchen Wissenschaftler schon seit der Entdeckung der DNA unter dem Begriff Genregulation.
Schon lange ist klar, dass in spezialisierten Körperzellen nur ganz bestimmte Gene überhaupt aktivierbar sein dürfen und diese Festlegung an Tochterzellen "vererbt" wird. Nur so entstehen in einer wachsenden Leber ausschließlich weitere Leberzellen, und im Nervengewebe nicht etwa Muskelzellen, obwohl sämtliche Körperzellen grundsätzlich mit identischem Erbgut ausgestattet sind.
Dass die Ernährung oder andere Umwelteinflüsse die Gen-Expression - also das Lesen der Gene - bestimmter Körperzellen beeinflussen, ist ebenfalls schon lange klar. "Das Sandwich, das Sie gerade gegessen haben, hat die Gen-Expression ebenfalls geändert", schreibt etwa der britische Genetiker Adam Rutherford im Guardian.
Ohne langfristige Wirkung von Umwelteinflüssen auf die Genregulation wäre auch nicht vorstellbar, wie eineiige Zwillinge zu den unterschiedlichen Individuen heranwachsen können, die sie meist sind, oder wie frühkindliche Traumata zu einer Anfälligkeit etwa für Depressionen bei Erwachsenen führen könne.
Inzwischen sind auch einige an der Genregulation beteiligte Moleküle gut untersucht: die Histone, um die die DNA-Stränge gewickelt sind, Methylgruppen und bestimmte RNA-Moleküle. Das hat dazu geführt, dass sich für dieses Teilgebiet der Genregulation der Begriff Epigenetik durchgesetzt hat.
Überzeugende Ergebnisse in Modellorganismen
Relativ neu - und tatsächlich aufregend - ist allerdings die Beobachtung, dass epigenetische Regulierungen selbst das Erbgut in Eizellen und Spermien betreffen, die an den Nachwuchs weitergegeben werden können. Das ist eigentlich schwer vorzustellen, denn Geschlechtszellen werden "gesäubert": Epigenetisch wirksame Moleküle werden von der DNA entfernt, damit aus diesen Zellen im Embryo wieder alle verschiedenen spezialisierten Zelltypen entstehen können. Wie sollen erworbene Eigenschaften dann an kommende Generationen weitergegeben werden?
Mäuse eigenen sich offenbar gut zur Untersuchung epigenetischer Vererbung
(Foto: ZB)Seit Längerem wissen Forscher aber, dass Umweltfaktoren bei Pflanzen und manchen niederen Tieren genau dazu führen können. So steigt die Lebenserwartung bei Fadenwürmern der Art Caenorhabditis elegans durch bestimmte Eingriffe in ihre Genregulation. Der Effekt zeigt sich auch noch bei ihren Nachfahren bis in die dritte Generation, dann verschwindet er.
Die bereits erwähnten Experimente an Nagetieren haben gezeigt, dass auch bei ihnen epigenetische Vererbung über Generationen stattfinden kann. Gut belegt hat das etwa Isabelle Mansuy, Professorin für Neuroepigenetik an der Universität in Zürich. Ihr Team löste durch Stress bei jungen Mäusemännchen "depressives" Verhalten aus, das sich dann auch bei deren nicht gestresstem Nachwuchs zeigte. Dann entnahmen die Forscher den Spermien der gestressten Mäusemännchen bestimmte RNA-Moleküle (microRNAs), die an der Genregulation beteiligt sind, und spritzte sie in bereits befruchtete Eizellen fremder Weibchen. Die daraus hervorgegangenen Jungen verhielten sich ebenfalls, als wären sie gestresst worden - und ihr Nachwuchs ebenfalls.
"Es ist eine falsche Annahme, dass während der Entwicklung das ganze Genom gesäubert wird", sagt Mansuy. "Für viele Gene wird das epigenetische Profil gelöscht, aber nicht für alle." Die Idee der Reprogrammierung sei fälschlich verallgemeinert worden. "Das ist ein großes konzeptuelles Problem, das den Fortschritt in der Biologie gebremst hat, weil viele Menschen zu Unrecht glaubten, Gene würden alles machen, und den Einfluss der Umwelt ignorierten."
Trotz solcher überzeugenden Studien bleiben unzählige Fragen zu den Mechanismen epigenetischer Vererbung über Generationen hinweg offen. Und bei manchen der beobachteten Effekte, etwa Depression oder Übergewicht, ist schwer vorstellbar, dass sie einen evolutionären Vorteil haben könnten.
Immerhin sind nicht alle epigenetischen Effekte nachteilig, sagt Mansuy. "Einige Ernährungsweisen früh im Leben können die Gesundheit und Lebenserwartung verbessern. Und auch traumatischer Stress kann positive Verhaltensanpassungen gegenüber herausfordernden Situationen bewirken."