Süddeutsche Zeitung

Entwicklungspsychologie:Bagger für Ben, Pferde für Paula

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Jungen spielen lieber mit Autos und Mädchen lieber mit Puppen. Wie eine große Analyse zeigt, galt das vor 50 Jahren, und das gilt auch heute noch. Wer sich hingegen verändert hat: Erwachsene.

Von Sebastian Herrmann

Kinder verhalten sich regelmäßig so, als seien sie Klischees auf zwei noch nicht ganz ausgewachsenen Beinen. Wer diese wilden Wesen in freier Wildbahn beobachtet, zum Beispiel auf Spielplätzen, in Kindergärten oder im eigenen Zuhause, wird immer wieder erwartbare Szenen erleben: Kleine Jungs spielen mit Autos oder rotten sich im Sandkasten bewundernd um Bagger zusammen; kleine Mädchen spielen Rollenspiele unter Beteiligung ihrer Puppen oder werkeln zum Beispiel an einer Spielküche herum.

Egal wie progressiv Eltern sind oder wie häufig sie zeitgeistige Aussagen zu "überkommenen Rollenstereotypen" von sich geben - das Spielverhalten ihrer Kinder sortiert sich oft überdeutlich in die entsprechende Schublade der Geschlechterklischees ein.

Früher galt genderkonformes Spielen als gesund, heute löst es Stürme der Empörung aus

Gerade haben Jac Davis und Melissa Hines von der britischen University of Cambridge eine umfangreiche Metaanalyse veröffentlicht, die diese Beobachtungen bestätigt. Wie die beiden Wissenschaftlerinnen im Fachjournal Archives of Sexual Behaviour berichten, sind die geschlechterspezifischen Vorlieben in Bezug auf Spielsachen bei Mädchen und Jungen sehr deutlich und im Vergleich zu früheren Jahrzehnten auch noch sehr stabil.

Mit anderen Worten: Jungen haben vor 50 Jahren schon lieber mit Autos als Puppen gespielt; und Mädchen haben schon vor 50 Jahren lieber mit Puppen als mit Autos gespielt. Der Effekt beziehungsweise die gemessenen Vorlieben sind für Mädchen und Jungen ungefähr gleich groß, wie die Forscherinnen in ihrer Analyse schreiben.

Die Frage nach geschlechterspezifischen Spielzeugvorlieben scheint eigentlich alltäglich beantwortet zu werden. Dennoch haben Wissenschaftler in den vergangenen Jahrzehnten dazu teils widersprüchliche Ergebnisse publiziert. "Ein Grund dafür", schreiben Davis und Hines, "könnten die unterschiedlichen Studiendesigns sein." In den vielen Studien dazu wurden natürlich viele unterschiedliche Spielzeuge verwendet. Zudem durften sich die Kinder je nach Experiment frei für ein Spielzeug entscheiden oder mussten zwischen zwei Möglichkeiten wählen.

Mal beobachteten Forscher wirkliches Spielverhalten, andere Wissenschaftler befragten Kinder hingegen nach ihren Spielzeugvorlieben oder ermittelten als Kennzahl, wie lange Mädchen und Jungen auf Bilder verschiedener Spielsachen blicken. Kurz: Die Mess- und Studienmethoden waren in der Vergangenheit so divers, das sich das auch in unterschiedlichen Ergebnissen niederschlug. Die aktuelle Metaanalyse lässt sich daher unter anderem als Versuch lesen, etwas Ordnung in die Literatur zu bringen. Davis und Hines werteten dazu 75 Studien aus fünf Jahrzehnten aus - und kamen nun zu dem eindeutigen Ergebnis, dass die Kinderzimmerklischees also zutreffen und quer durch die Zeit stabil bleiben.

Was sich hingegen verändert habe, seien die Erwartungen aus der Erwachsenenwelt, argumentieren die Forscherinnen. In Studien aus den 1960er-Jahren, schreiben Davis und Hines, wurde klischeekonformes Spielen noch als notwendiges, gesundes Verhalten betrachtet: Aus damaliger Sicht übten Mädchen und Jungen Fertigkeiten ein, die sie später in ihrer Rolle als Frau oder Mann benötigten. Heute hat sich der Wind gedreht. Regelmäßig toben Stürme der Entrüstung, wenn jemand genderkonformes Spielzeug entdeckt hat und davon ein Bild auf Twitter postet.

Die Erregung klingt dann jedes Mal so, als seien Mädchen und Jungen automatisch und für immer an die dunkle Seite der Macht verloren, wenn sie auch nur flüchtig in Kontakt mit rosa oder blauen Dingen geraten. Die Kinder werden auch diesen Sturm an sich vorüberziehen lassen und weiter ihr Ding machen.

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SZ vom 30.01.2020
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