Mit schiefer Brille und zerzaustem Haar springt Scott Rozelle in ein Bällchenbad. Jauchzend bewerfen mehrere Kleinkinder den 62-jährigen Ökonomen und klimmen auf seinen Schoß, während Rozelle mit den Müttern und Großmüttern auf Chinesisch plaudert, am Zentrum für frühkindliche Bildung in Zentralchina.
Was so zwanglos erscheint, ist in Wahrheit Teil eines ehrgeizigen Experiments. Kinder und Betreuer nehmen an einem Versuch teil, der - unter der Leitung Rozelles - ein gewaltiges Problem Chinas lösen soll: die intellektuelle Verkümmerung von etwa einem Drittel der Bevölkerung. Umfragen von Rozelles Team ergaben, dass mehr als die Hälfte der Achtklässler in Chinas armen, ländlichen Gebieten nicht einmal einen Intelligenzquotienten von 90 Punkten erreicht, mit dem rasanten offiziellen Lehrplan also unmöglich Schritt halten kann. Mehr als ein Drittel der ländlichen Kinder bricht vor Abschluss der neunten Klasse bereits die Schule ab, sagt Rozelle, Professor an der Stanford-Universität in Palo Alto. Rechnet man noch die 15 Prozent der städtischen Kinder mit ein, die sich am unteren Ende des IQ-Spektrums bewegen, entfaltet sich ein erschreckendes Szenario: Rund 400 Millionen Menschen, sagt Rozelle, laufen Gefahr, geistig zurück zu bleiben.
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Chinesischen Kindern auf dem Land fehlt es an vielem: Spielkameraden, Eltern, Zuneigung.
Nicht alle chinesischen Akademiker stimmen den Prognosen Rozelles zu, sagt Mary Young, Kinderärztin und Spezialistin für Kindesentwicklung, die früher am Institut der Weltbank in Washington tätig war. Doch sind sich die Fachleute einig, dass China vor einem gewaltigen Problem steht. Und es gebe definitiv ein großes Stadt-Land-Gefälle im Bildungsniveau, sagt Young, die im Auftrag der staatlichen China Development Research Foundation Projekte für Eltern kleiner Kinder in den verarmten Gebieten leitet.
Während Chinas Stadtbevölkerung prosperiert, leben auf dem Land noch immer mehr als 70 Millionen Menschen von weniger als einem US-Dollar pro Tag, so ein Bericht der Weltbank. Dort finden sich Fälle, wie der einer 27 Jahre alten Mutter aus der Provinz Shaanxi, die auf einem entlegenen Bauernhof wohnt. Gerne würde sie ihre Kinder in die Vorschule schicken. Doch dafür müsste sie in die nächste Stadt umziehen, wo die Mieten für die Frau unerschwinglich sind.
Nach dem Mittagessen tobten die Kinder nicht herum, stattdessen schliefen sie
Die Millionen vernachlässigter Kinder könnten die Zukunft des Landes bedrohen, sie mindern das Bruttoinlandsprodukt enorm, wie Modellrechnungen an Ländern wie Indien und Tansania zeigen. Die finanziellen Einbußen durch die geistige Entwicklungsverzögerung können demnach für ein Land ähnlich groß sein wie die gesamten staatlichen Gesundheitsausgaben, erklärt Linda Richter, von der Witwatersrand-Universität in Johannesburg, Südafrika. Die Entwicklungspsychologin wirkte an einer Serie von Artikeln über frühkindliche Entwicklung mit, die im Fachjournal The Lancet im vergangenen Oktober erschienen.
Dass der fatale Trend sich nicht fortsetzen muss, will Rozelle nun beweisen. Mit einem gewaltigen Programm wollen er und seine Kollegen der Entwicklung entgegenstemmen. "Das wird China daran hindern, zusammenzubrechen", sagt der Ökonom, der sich schon lange für Land und Leute interessiert.
Bereits in der Schule lernte er Hochchinesisch, weil sein Vater das für nützlich hielt. Dann studierte er zunächst Finanzwesen, legte jedoch bald sein Studium auf Eis, um drei weitere Jahre Chinesisch in Taiwan zu lernen. Zu der Zeit konnte er den Aufstieg der Insel zum "asiatischen Tiger" beobachten. "Ich war von der Entwicklung in Asien begeistert", sagt er.
Im Laufe der Jahre forschte er in Stanford und der University of California in Davis an Themen wie Bewässerungsinvestitionen, gentechnisch veränderte Baumwolle und Mikrokreditprogramme für Arme auf dem Land. Diese Arbeiten brachten ihm 2008 den nationalen Freundschaftspreis ein, die höchste Auszeichnung, die China an Ausländer vergibt, die wichtige Beiträge zum Staat geleistet haben Zudem ist er Vorsitzender eines Beirats im Zentrum für chinesische Agrarpolitik der Chinesischen Akademie der Wissenschaften.
Mitte der 2000er Jahre begannen sich Rozelle und seine Kollegen für Bildung zu interessieren. Chinas Wirtschaft wuchs rapide, aber Kinder aus ländlichen Gegenden hatten keine Chance, von diesem Aufschwung zu profitieren, sagt Luo Renfu, langjähriger Mitarbeiter Rozelles und Wirtschaftswissenschaftler an der Peking-Universität. Daher wachse die Kluft zwischen der städtischen und ländlichen Bevölkerung, sagt Rozelle. Viele Städter passen zum Klischee der "Tiger"-Eltern, die ihre Kinder zu Höchstleistungen antreiben. Nach der Schule folgen Nachmittage mit Musik und Englischunterricht, Stunden in Nachhilfezentren, die auf die Aufnahmeprüfungen der Universitäten vorbereiten. Mehr als 90 Prozent der städtischen Schüler beenden so die Highschool, also das Gymnasium.
Allerdings wächst nur ein Viertel der Kinder Chinas in den relativ wohlhabenden Städten auf. Aber auch Mütter auf dem Land knüpfen große Hoffnungen an ihre Kinder. Rozelles Umfragen ergaben, dass die meisten von ihnen sich wünschen, dass ihr Nachwuchs später einmal studiert, 17 Prozent sehnen sich sogar nach einem Doktortitel. Die Statistiken hingegen sind ernüchternd: Nur 24 Prozent der Kinder der arbeitenden Bevölkerung Chinas insgesamt beenden überhaupt das Gymnasium.
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Das lässt nichts Gutes hoffen für Chinas Bestrebungen, sich bald in die Gruppe der reichen Industrieländer einzureihen, sagt Rozelle. In den vergangenen 70 Jahren, so erklärt er, hätten es weltweit nur 15 Länder geschafft, in diese Ländergruppe aufzusteigen, darunter Südkorea und Taiwan. In den erfolgreichen Staaten haben mindestens drei Viertel der erwerbstätigen Bevölkerung das Gymnasium abgeschlossen - bevor das jeweilige Land zur Gruppe der reichen Industriestaaten gehörte. "Auf diese Arbeitskräfte konnte sich die Wirtschaft stützen", sagt Rozelle. Im Gegensatz dazu hat in den derzeit 79 Ländern der mittleren Einkommensgruppe höchstens ein Drittel der Arbeitskräfte das Gymnasium hinter sich. In diese Liste reiht sich auch China ganz unten mit ein.
Ein Viertel der Kinder unter zwei Jahren lebt zumindest zeitweise nicht bei den Eltern
Im Jahr 2006 brachte Rozelle viele seiner Kooperationspartner in einem Programm zur Förderung der Landbevölkerung Chinas zusammen, dem Rural Education Action Program, REAP. An der Stanford-Universität angesiedelt, verfügt REAP über bedeutende Partnerinstitutionen in China, darunter renommierte Hochschulen wie die Peking-Universität und das Zentrum für chinesische Agrarpolitik in Peking, das stärkt die Organisation im Umgang mit den nationalen Behörden. REAP hat auch Verbindungen zu den Universitäten in den Provinzen und durch ihre Professoren zu Lokalpolitikern.
Zunächst konzentrierte sich das REAP-Team in seinen Studien auf die Qualität und Kosten der ländlichen Bildung. Doch im Jahr 2009 wurde Rozelle beim Besuch einer Schule auf ein anderes Problem aufmerksam gemacht. Nach dem Mittagessen tobten die Kinder nicht herum, wie es zu erwarten gewesen wäre. Stattdessen schliefen sie. Rozelles Kollege Reynaldo Martorell von der Emory-Universität in Atlanta vermutete daher, dass sie mangelernährt waren - eine erste Studie sollte den Verdacht bald bestätigen. Weitere 19 Studien Rozelles in zehn ländlichen Provinzen an 113 000 Grundschulkindern brachten überall ähnliche Ergebnisse: 33 Prozent der Kinder litten an Wurminfektionen im Darm, 27 Prozent an Blutarmut, ein Hinweis auf Unterernährung. Und 20 Prozent der Schüler waren kurzsichtig, besaßen aber weder Brille noch Kontaktlinsen. Nur eines der drei Probleme könne bereits zu Lernstörungen führen, sagt Rozelle.
Daraufhin begann REAP eine weitere Studie. An 200 Schulen überprüften Mitarbeiter das Sehvermögen der Kinder und unterzogen sie einem Mathe-Test. An der Hälfte der Schulen bekamen die fehlsichtigen Kinder kostenlos eine Brille, an der anderen nicht. Ein Jahr später hatten sich die Mathematiknoten der Brillenträger weit mehr verbessert als die jener Gleichaltrigen, die weiter ohne Brille zurechtkommen mussten. Ähnlich aussagekräftig waren zwei weitere REAP-Studien. In der ersten erhielt ein Teil der Schüler Nahrungsergänzungsmittel, in der zweiten dann Medikamente gegen Wurminfektionen - beide Maßnahmen hatten Erfolg. Diese und andere Erkenntnisse trugen dazu bei, dass die Zentralregierung im Jahr 2011 ein Schulmittagessen-Programm für 20 Millionen Schüler auf dem Land etablierte, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler Luo von der Peking-Universität.
Rozelle aber wollte noch jüngere Kinder erreichen. Denn andere Studien hatten inzwischen gezeigt, dass es sich für die Wirtschaft eines Landes lohnt, in die ersten 1000 Lebenstage eines Kindes zu investieren. "Entwicklungsökonomen haben nun die Babys entdeckt", sagt er. Vernachlässigen Eltern die Säuglinge emotional oder körperlich, erhielten die Kleinen keine ausgewogene Ernährung, könne das zu kognitiven Defiziten führen, die ein Leben lang bestehen bleiben.
Mit Hilfe von REAP kann Rozelle untersuchen, wie sich das verhindern lässt. Im Jahr 2013 zum Beispiel begann eine Studie mit mehr als 1800 Babys im Alter von sechs bis zwölf Monaten und ihren Betreuern aus 348 Dörfern der verarmten Provinz Shaanxi in der Mitte Chinas. Ein Team nahm den Kleinen Blut ab und notierte Größe und Gewicht jedes einzelnen Kindes. Ein Gutachter unterzog jedes Baby einem gängigen Entwicklungstest, der kognitive, sprachliche und motorische Fähigkeiten abbildet. Die Betreuer - Eltern, Großeltern oder andere Bezugspersonen - mussten einen Fragebogen zum Sozialverhalten und emotionalen Befinden des Kindes beantworten. Die Tests wurden dreimal im Abstand von sechs Monaten wiederholt. Das Team hielt auch fest, ob und wann eine Mutter in die Stadt abgewandert war, um dort zu arbeiten.
Die gute Nachricht: Die Kinder auf dem Land waren von ihren motorischen Fähigkeiten her gut entwickelt. Die traurige Nachricht: Knapp die Hälfte der Babys litt unter Blutarmut. 29 Prozent lagen in ihrer Entwicklung zurück, fast doppelt so viele wie die üblichen 15 Prozent der Kinder, die in jeder Gesellschaft in IQ-Tests knapp unter dem Durchschnitt abschneiden.
Die Forscher konzentrierten sich daraufhin zunächst auf die Ernährung der Kinder und stellten einem Teil der Studienteilnehmer Vitamine bereit. Bald mussten sie aber feststellen, dass die Nahrungsergänzung kaum Einfluss auf die Entwicklung zeigte. Ob mit oder ohne Vitamine - die geistige Entwicklung der Kinder ließ zu wünschen übrig. Sollte die elterliche Fürsorge das Problem sein? Das wollten die Forscher herausfinden. Daher begannen sie im Frühjahr 2014, die Betreuer zu ihre Erziehungspraktiken zu befragen. Sie stellten fest, dass nur elf Prozent von ihnen ihren Kindern am Vortag eine Geschichte erzählt hatten, weniger als fünf Prozent hatten ihren Kindern vorgelesen und nur ein Drittel berichtete, mit ihrem Nachwuchs zu spielen oder zu singen.
Keinerlei Spielkameraden, der Vater arbeitet im zwei Stunden entfernten Xi'an
Besonders hart trifft es Kinder, die von ihren Müttern zurückgelassen werden. Immerhin ein Viertel der chinesischen Kinder jünger als zwei Jahre lebt zumindest zeitweise nicht bei den Eltern, sondern bei anderen Angehörigen, berichtet Unicef. Großeltern müssen die Kleinen oft versorgen, doch die meisten haben weder die Zeit, die Energie noch die nötige Bildung, um ihren Enkelkindern vorzulesen, sagt die Kinderärztin Young. Die verheerenden Folgen konnten die Forscher an den Testergebnissen ablesen: Nachdem die Mütter das Haus verlassen hatten, lief die kognitive Entwicklung aus dem Ruder, die Testergebnisse für die emotionale und soziale Entwicklung brachen ein. Die Effekte waren am größten, wenn die Mutter ihre Familie im Laufe des ersten Lebensjahrs verließ.
Um das zu verhindern, setzt REAP Maßnahmen ein, die unter Experten als Jamaika-Intervention bekannt sind. Die Ärztin und Expertin für Kindesentwicklung Sally Grantham-McGregor hatte die Strategie einst entworfen, um entwicklungsverzögerten Kindern auf Jamaika zu helfen. Die hatte Grantham-McGregor in den 1970er und 1980er Jahren an der University of the West Indies in Kingston beobachtet. Hausbesuche gehören zu der Strategie. Dabei sollen die Müttern oder andere Betreuer lernen, wie sie Bücher und Spielzeug im Umgang mit Kleinkindern einsetzen können, um kognitive, sprachliche und motorische Fähigkeiten zu fördern. Rozelle und Kollegen wählten dafür 513 Kinder und ihre Betreuer aus der ersten Studie aus. In den folgenden sechs Monaten besuchten neu ausgebildete Fachkräfte wöchentlich die ausgewählten Haushalte. Wenn die Mutter noch zu Hause lebte, entwickelten sich diese Babys dann normal. Wenn aber die Großmutter ein Kind aufzog, stagnierten die Testwerte, trotz Hausbesuch. Warum das so ist, versuchen Rozelle und Kollegen jetzt zu verstehen.
Sie wissen bereits, dass manche Trainer manchmal die abgelegensten Familien ausließen, und die Erzieher machten nicht immer mit. Auch gelang es nur selten, die Isolation von Kindern ohne Spielkameraden zu vermeiden, und die Mütter wurden kaum entlastet. Viele Mütter lebten bei ihren Schwiegereltern, fernab von Familie und Freunden. Eine Befragung der Frauen ergab, dass 40 Prozent von ihnen Anzeichen einer Depressionen zeigten und von psychiatrischer Hilfe profitieren würden.
Diese Analysen bildeten die Grundlage für das bislang ehrgeizigste Experiment von REAP. Das Team hat im vergangenen Jahr 50 Zentren für frühkindliche Entwicklung in Dörfern der Provinz Shaanxi eingerichtet, um Dienstleistungen kosteneffizienter zu erbringen. Um sicherzustellen, dass die Hausbesuche tatsächlich stattfinden. Und um Kleinkinder und deren Betreuer aus der Isolation zu holen. Die Einrichtung eines Zentrums kostet durchschnittlich 10 000 US-Dollar; die jährlichen Ausgaben liegen zwischen 60 000 und 100 000 US-Dollar. REAP finanziert das Ganze aus Spenden.
Die im Mai eröffnete Anlage in Shangluo ist die erste von mehreren geplanten "Superzentren". Sie sollen in modernen Wohnanlagen ihren Platz finden und Landbewohnern einen Anreiz bieten, ihre abgelegenen Grundstücke zu verlassen. Das REAP-Team wird den Fortschritt jener Kindern dokumentieren, die eines der Zentren besuchen. Und auch die Entwicklung von Kinder aus 50 Dörfern, die noch nicht gefördert werden, wie jenes 26 Monate alte Mädchen, das von ihren Großeltern väterlicherseits im Dorf Wanghe aufgezogen wird.
Ihr Haus liegt am Rande einer Schotterpiste inmitten baufälliger Gebäude. Sie hat keinerlei Spielkameraden in ihrem Alter. Ihr Vater arbeitet im zwei Autostunden entfernten Xi'an und kommt nur wenige Male im Jahr nach Hause. Die Mutter hat die Familie verlassen. Die Großmutter betreut das Kind, hat aber selbst noch nicht einmal die Grundschule besucht. Im Haus sind weder Spielsachen noch Bücher zu sehen. In einem Alter, in dem die meisten Kinder bereits Zwei-Wort-Sätze bilden, spricht das Mädchen kaum. Es schneidet beim Entwicklungstest miserabel ab.
Rozelle fällt es schwer, Kindern wie diesem Mädchen nicht zu helfen. Doch nur der Vergleich zwischen Kindern aus den verschiedenen Lebensumständen ermöglicht es, wirksame Maßnahmen wissenschaftlich nachzuweisen. Die erste Auswertung der neuesten REAP-Studie soll Anfang 2018 fertig sein. "Wir möchten die Kindern aber darüber hinaus so lange wie möglich begleiten", sagt Wang Lei, Ökonom der Shaanxi Normal University und Mitglied der REAP. Und Rozelle ist noch einen Schritt weiter: Er versucht bereits, die Zentralregierung davon zu überzeugen, landesweit weitere Zentren zu gründen, in insgesamt 300 000 Dörfern.
Dieser Beitrag ist im Original im Wissenschaftsmagazin Science erschienen, herausgegeben von der AAAS. Deutsche Übersetzung und Bearbeitung: Helene Tobollik, Astrid Viciano. Weitere Informationen: www.aaas.org