Manche der wichtigsten Entdeckungen geschehen, wenn man nur hartnäckig genug auf der falschen Fährte ist. Auf diese Weise stieß Kolumbus auf Amerika, und der österreichische Physiker Victor Franz Hess entdeckte vor genau hundert Jahren die kosmische Strahlung. Er erhielt für seine bahnbrechende Forschung im Jahr 1936 den Nobelpreis. Mit wagemutigen Ballonfahrten und penibler Analyse stellte er am 7. August 1912 fest, dass aus dem All unaufhörlich Strahlung auf die Erde trifft.
Zu seiner Zeit war die Entdeckung überraschend, wenn nicht mysteriös", sagt Matthias Steinmetz vom Leibniz-Institut für Astrophysik in Potsdam. "Aber er hat der modernen Physik damit ein neues Fenster aufgestoßen, sowohl in die Tiefen des Kosmos als auch in die subatomare Welt der Teilchenphysik."
Mit seiner Entdeckung begründete Hess die Astroteilchenphysik, die heute exotischen kosmischen Objekten auf die Spur zu kommen sucht. Ihre teils riesigen Observatorien stehen in der argentinischen Pampa, liegen unter einem italienischen Granitberg, sind im Eis der Antarktis versenkt und kreisen auf Satelliten um die Erde. Auch Ballonfahrten gehören bis heute dazu. Dabei muss sich aber niemand wie einst Hess persönlichem Unbill aussetzen; die Flüge sind unbemannt.
Eigentlich wollte der Physiker nachweisen, dass radioaktive Strahlung abnimmt, je weiter man sich von der Erde entfernt. Damals war bereits bekannt, dass aus dem radioaktiven Zerfall von Atomen im Gestein überall auf der Erde eine geringe, wenn auch schwankende Dosis ionisierender Strahlung zu finden ist.
Wenn die Strahlung aus dem Boden stammt, sollte sie folglich mit zunehmender Höhe abnehmen. Die Wissenschaftler wussten auch, dass ionisierende Strahlung Luft elektrisch leitend macht. Mit Hilfe sogenannter Elektrometer ließen sich Entladungen messen und damit Rückschlüsse auf die ionisierende Strahlung ziehen.
Die frühen Kernphysiker stellten sich unter anderem die Frage, wie es sich mit der Radioaktivität in größeren Höhen verhielt. Der damals 29-jährige Victor Franz Hess arbeitete am Wiener Radiuminstitut und plante mehrere Ballonfahrten, um die Abnahme der radioaktiven Strahlung in größerer Höhe zu messen. Auf seinen Fahrten nahm er Sauerstoffgeräte und mehrere Messinstrumente mit.
Hess flog nicht nur bei Tag, sondern auch nachts und während einer Sonnenfinsternis, um einen möglichen Einfluss der Sonnenstrahlung auf die Messungen auszuschließen. Schon bald entwickelte er eine große Begeisterung für das Ballonfahren. Er und seine Ballonführer bewiesen auch gehörigen Mut, nachts und bei mitunter schwierigen Bedingungen in große Höhen zu steigen. Die ersten Fahrten lieferten noch keine eindeutigen Ergebnisse. Die Strahlung schien in der Tat bis in 1000 Meter Höhe abzunehmen. Hess entschied sich schließlich beim siebten Versuch dazu, eine Hochfahrt zu unternehmen.
Am 7. August 1912 stieg er deshalb beim nordböhmischen Aussig an der Elbe auf. Der Ballon trieb in nördliche Richtung und erreichte eine Höhe von 5350 Metern. Obwohl er Sauerstoff inhalierte, litt Hess so schwer an der Höhenkrankheit, dass sie schon bald darauf tiefer gingen und im brandenburgischen Bad Saarow landeten.
Die Ergebnisse seiner Messungen waren dennoch bahnbrechend. Hess konnte eindeutig nachweisen, dass die Radioaktivität in größeren Höhen wieder zunimmt. In fünf Kilometern Höhe ist sie bereits deutlich stärker als auf der Erdoberfläche. Neben der Strahlung aus dem irdischen Gestein gibt es also auch einen von Weltraum kommenden natürlichen Strahlungshintergrund auf dem Planeten Erde. Hess hatte die kosmische Strahlung entdeckt, sich einen Nobelpreis verdient und nebenbei die Astroteilchenphysik begründet.
Die kosmische Strahlung prasselt wie ein konstanter Hagelschauer auf die oberen Atmosphärenschichten, wird aber von Luft und Erdmagnetfeld weitgehend abgeschirmt. Im leeren Raum des Weltalls herrscht eine recht starke Strahlung, die sich aus verschiedenen Komponenten zusammensetzt. Im niederenergetischen Bereich weht der Sonnenwind, er sorgt beim Eintritt in die Atmosphäre für Phänomene wie das Leuchten der Polarlichter.
Im hochenergetischen Bereich messen die Astrophysiker Teilchen mit Energien, die millionenfach höher liegen als alles, was die größten Teilchenbeschleuniger der Erde erreichen können. Ein einzelnes solches Teilchen besitzt so viel Wucht wie ein schnell geschlagener Tennisball - konzentriert auf seine atomare Größe. Viele neue Elementarteilchen wurden deshalb zuerst in der kosmischen Strahlung entdeckt, bevor man sie auch in irdischen Beschleunigern nachweisen konnte, so etwa das Positron und das Myon - das Antiteilchen und der schwere Bruder des Elektrons.
Der gläubige Katholik Hess hatte trotz seiner bedeutenden Entdeckung kein leichtes Leben. Nachdem er lange um die Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistung kämpfen musste, verlor er 1934 nach einer Kehlkopfoperation seine Stimme und konnte sich nur noch leise per Mikrofon und Lautsprecher verständigen. Wahrscheinlich war dies, ebenso wie eine Daumenamputation, eine Folge des unbedachten Umgangs mit Radium. Die gefährliche Wirkung starker Radioaktivität war damals noch nicht bekannt, und etliche Kernphysiker fügten sich bei ihrer Arbeit gesundheitliche Schäden zu.
Mit dem Nobelpreis schienen Hess' Sorgen zunächst verflogen zu sein. Nach dem Anschluss Österreichs an das Dritte Reich jedoch wurde der Nazigegner Hess ohne Pension in den Zwangsruhestand geschickt. Von einem befreundeten Gestapo-Offizier vor ihrer bevorstehenden Verhaftung gewarnt, flüchteten Hess und seine Frau, die jüdischer Abstammung war, erst in die Schweiz und dann weiter in die USA. Ihren Besitz mussten sie zurücklassen.
1944 nahm Hess die amerikanische Staatsbürgerschaft an; er kehrte nach dem Krieg nur noch für kurze Besuche nach Österreich zurück. Er blieb aber weiterhin begeisterter Forscher und erkundete die medizinischen Folgen radioaktiver Strahlen.