Süddeutsche Zeitung

Energiewende:Strommast ade

Viele geplante Stromtrassen sind unnötig, rechnen neue Studien vor. Auch mit weniger neuen Leitungen könne Energie günstiger werden. Doch kommt es dabei stark auf den Bürger an.

Von Michael Bauchmüller und Marlene Weiß

Die Energiewende, so heißt es gemeinhin, erfordere einen kräftigen Netzausbau. In Deutschland allein sollen 2650 Kilometer neue Stromtrassen entstehen, weitere 2800 Kilometer sollen verstärkt werden; ganz zu schweigen von den Leitungen in der Provinz, die all den Solarstrom abtransportieren sollen. 104 Milliarden Euro Investitionen planen allein Europas große Netzbetreiber in den nächsten zehn Jahren, sehr zum Leidwesen vieler Anwohner. Aber möglicherweise wäre ein Teil davon verzichtbar - wenn man die Energiewende richtig bewerkstelligt.

Das jedenfalls legen zwei neue Studien nahe. So rechnet der Berliner Thinktank "Agora Energiewende" vor, dass man sich viele Leitungen schenken könnte, wenn man nur endlich sparsamer mit Strom umginge - was schon viele Politiker zum Ziel erklärt haben, allerdings meist weitgehend folgenlos. Wenn erneuerbare Energiequellen bis zum Jahr 2050 mindestens 80 Prozent zur Stromerzeugung beitragen, so wie es im Koalitionsvertrag festgehalten ist, könnte man demnach bis dahin mit nur 1700 Kilometern neuen Übertragungsleitungen auskommen - vorausgesetzt, man folgt einem strikten Stromsparplan und verbraucht 2050 fast 40 Prozent weniger Strom als heute.

Sparen könnte die Versorgung enorm verbilligen

Macht man dagegen weiter wie bisher und lässt den Verbrauch noch steigen, werden mehr als 8500 Kilometer Leitungen nötig. Etwa 4000 Kilometer würden gebraucht, wenn nur das Energiekonzept der Bundesregierung aus dem Jahr 2010 umgesetzt würde, das bis 2050 25 Prozent Stromeinsparung vorsieht. Allerdings kritisieren die Autoren, dass dafür bislang die Maßnahmen fehlen.

Um bis zu 28 Milliarden Euro könnte Energiesparen laut Studie die Stromversorgung im Jahr 2050 verbilligen. Die nicht gebauten Leitungen wirken sich dabei kaum aus, viel schwerer fällt ins Gewicht, dass man weniger Strom aus Wind, Sonne und Pflanzen erzeugen müsste. "Energie, die nicht verbraucht wird, muss nicht produziert, transportiert und bezahlt werden", sagt Patrick Graichen, Direktor von Agora.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch eine Studie der Darmstädter Beratungsfirma Energynautics im Auftrag von Greenpeace - nur mit ganz anderem Ansatz. Danach ließe sich der Netzausbau auch dadurch senken, dass Europa konsequenter auf die Energiewende setzt. Was unlogisch klingt, erklärt sich durch die Doppelbeanspruchung der Stromleitungen. Derzeit werden sie für beide genutzt: für den schwankenden Strom aus Wind und Sonne ebenso wie für den stabilen Strom aus Kohle- und Atomkraftwerken. Aber diese Konkurrenz überfordere das Stromnetz. Bis 2030, so rechnet die Studie vor, müsse Europa wegen der verstopften Netze auf Windstrom im Wert von 4,9 Milliarden Euro im Jahr verzichten, kalkuliert freilich auf Basis eines vergleichsweise hohen Strompreises.

Gleichstromleitungen als Lösung?

Die Alternative: Künftig sollten zunehmend Gaskraftwerke den Strom aus Kohle und Atom ersetzen. Sie lassen sich schnell an- oder abschalten und könnten einspringen, wenn Wind und Sonne fehlen. Wäre aber weniger Strom aus inflexiblen konventionellen Kraftwerken im Netz, würden auch weniger Leitungen benötigt. Zudem spekuliert die Studie darauf, dass sich bis 2030 ein Zehntel des Solarstroms in Batterien speichern lässt; weitere zehn Prozent des Netzausbaus wären überflüssig. Den größten Effekt hätte der Aufbau eines Netzes von Gleichstromleitungen, die über große Strecken quer durch Europa Strom verlustfrei transportieren könnten: Um 40 Prozent ließe sich so der Ausbau der Stromtrassen mindern. Just jene Gleichstromleitungen, die in Bayern so umstritten sind. Bis 2030 ließen sich EU-weit leicht 77 Prozent Ökostrom einspeisen, folgert Greenpeace - wenn die Europäer das wollen.

Die Staats- und Regierungschefs beraten darüber an diesem Freitag in Brüssel, zusammen mit einem EU-Klimaziel für 2030. Die Vorgaben allerdings sind bisher ziemlich bescheiden. Ein festes Ziel für die Energieeffizienz soll es erst mal nicht geben. Und bei der Ökoenergie begnügt sich die Kommission bisher mit einem Anteil von 27 Prozent. Europas Leitung ist mitunter lang.

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SZ vom 20.03.2014/chrb
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