Energiesystem der Zukunft:Wie Deutschland auf 100 Prozent Ökostrom umsteigen kann

Sonnenaufgang in Mecklenburg-Vorpommern

Windräder und Solarmodule stehen für Forscher im Zentrum der zukünftigen Stromversorgung.

(Foto: dpa)

Die Kosten sind überschaubar - doch entscheidend ist, ob die Bevölkerung dem notwendigen Ausbau der Infrastruktur zustimmt.

Analyse von Christopher Schrader

Im Jahr 2050 kann sich Deutschland problemlos mit Strom versorgen, ohne dass dafür auch nur eine Tonne Kohlendioxid zusätzlich in die Atmosphäre aufsteigt. Nötig dafür ist ein kompliziertes Netz aus Tausenden von Windrädern, Solarparks, Biogasanlagen und Wasserstoff-Speichern. Es muss in wesentlichen Teilen noch entstehen, aber die Kosten werden dabei nicht in den Himmel schießen.

Dieser Blick in die Zukunft ist keine Vision von Umweltgruppen oder Verbänden der grünen Energiebranche, denen man wirtschaftliche Interessen unterstellen könnte. Er stammt von den deutschen Akademien der Wissenschaften, die am heutigen Donnerstag eine gemeinsame Analyse über "Flexibilitätskonzepte für die Stromversorgung 2050" (hier finden Sie die Studie online) vorgelegt haben - eine Art Masterplan für das Energiesystem der Zukunft. Eine Herausforderung ist es, die schwankende Erzeugung von Wind- und Sonnenkraft auf die schwankende Nachfrage nach Strom abzustimmen. Das ist das zentrale Problem der deutschen Energiewende. Die Autoren des Berichts, der unter der Federführung der Technik-Akademie Acatech entstanden ist, sind sicher: Die Schwankungen lassen sich in den Griff bekommen.

"Es gibt sogar mehrere Pfade zu einer CO₂-freien Stromversorgung, und die Kosten sind jeweils ähnlich", sagt Manfred Fischedick vom Wuppertal-Institut. Die Kilowattstunde Strom könnte dann in der Erzeugung etwa sechs Cent kosten. Das ist zwar mehr als heute, wo auf dem aus der Balance geratenen Strommarkt zwischen drei und vier Cent gezahlt werden. Es ist aber weniger als die fast sieben Cent, die eigentlich im deutschen Kraftwerkspark für Betrieb und Erhaltungs-Investitionen verlangt werden müssten.

"Fast keine Technologie ist alternativlos"

Weitere ein bis 1,5 Cent billiger wird Strom im Jahr 2050 gemäß der Studie, wenn der Kohlendioxid-Ausstoß der Kraftwerke nicht komplett gestoppt, sondern nur um 90 Prozent reduziert würde. Hohe Einsparungen bei den Kraftwerken wären essenziell, um die gesamten deutschen CO₂-Emissionen bis 2050 wie geplant um mindestens 80 Prozent zu drosseln. Beim Strom ist dies einfacher als zum Beispiel im Verkehr, darum müsste die Elektrizitätswirtschaft ihren Ausstoß überproportional reduzieren. "Es wäre sehr hilfreich, wenn die Politik dieses Ziel verbindlich festlegen könnte", sagt Dirk Uwe Sauer von der RWTH Aachen.

Insgesamt hat das Team etwa 140 verschiedene Pfade in die Zukunft analysiert. "Es gibt zahlreiche sinnvolle Möglichkeiten, die Stromversorgung im Zeitalter der erneuerbaren Energien zu stabilisieren", sagt Sauer. "Fast keine Technologie ist alternativlos, fast jede lässt sich zu überschaubaren Mehrkosten ersetzen." Es gibt allerdings einige Konstanten. Zum einen werden Windräder und Solarmodule auf Fotovoltaik-Basis in den Szenarien zur Grundlage der Energiewirtschaft. Fast immer gilt: Je mehr davon installiert sind, desto preiswerter wird der Strom. Zum anderen sind Gas-Turbinen ein entscheidender Baustein in praktisch jedem Szenario. "Sie werden künftig zunehmend mit Biogas, Wasserstoff oder synthetischem Methan betrieben", sagt Sauer. Neue Kraftwerke sollten so gebaut werden, dass sie von Erdgas auf Brennstoffe mit einer besseren Klimabilanz umsteigen können. Damit ließen sich dann auch wind- und sonnenarme Perioden von drei Wochen überbrücken. Solche gefürchteten "Dunkelflauten" hat es zum Beispiel im Jahr 2008 gegeben. Derart lange Ausfälle kommen bisher nur etwa alle zehn Jahre vor, so der Aachener Forscher.

Der Schlüssel ist die gesellschaftliche Akzeptanz

Jedoch enthält der Bericht viele Wenn-dann-Aussagen. "Es kommt in vielen Bereichen auf die gesellschaftliche Akzeptanz der einzelnen Technologien an", sagt Manfred Fischedick. Wenn zum Beispiel große Stromleitungen über die Alpen oder quer durch Frankreich nach Deutschland nicht durchzusetzen sind, können solarthermische Kraftwerke am Mittelmeer keinen Beitrag zur Stromversorgung leisten. Leisten Menschen weiter Widerstand gegen die CCS-Technik (Carbon Capture and Storage), also die Idee, CO₂ aufzufangen und unter der Erde zu verpressen, können derart ausgerüstete Braunkohle-Meiler auch in Dunkelflauten keine Elektrizität liefern. Strom lässt sich nur dann in den Batterien von Elektroautos zwischenspeichern, wenn die Autofahrer es einer Firma erlauben, ihre geparkten Karossen zu laden oder zu entladen. Und große Mengen von Biomasse liefern nur dann viel Biogas, wenn die Gesellschaft einverstanden ist, dass auf manchen Feldern Energie produziert wird statt Lebensmitteln.

Viele dieser Probleme vermeidet ein Szenario, das auf den ersten Blick überkandidelt erscheint: der Aufbau von so vielen Windrädern und Solarmodulen, dass sie über das Jahr hinweg 136 Prozent des Stroms erzeugen, den Deutschland verbraucht. Sie würden also sehr viel überschüssige Energie erzeugen, die sich in Form von Wärme und Wasserstoff speichern ließe. Dadurch fiele der Bedarf von Biomasse unter die heutigen Mengen, Solarkraftwerke am Mittelmeer wären ebenso unnötig wie Braunkohle-Meiler mit CCS. Allerdings wäre dann womöglich Wasserstoff übrig, um daraus auch grüne Kraftstoffe für Autos herzustellen, oder um im Winter mit überschüssiger Wärme Wohnungen zu beheizen. "Wenn man auch die Sektoren Wärmeversorgung und Verkehr auf erneuerbare Quellen umstellen möchte, braucht man einen noch stärkeren Ausbau des Ökostroms", sagt Sauer. "Dann müssten Windräder und Solarmodule mindestens das Doppelte des Stromverbrauchs liefern."

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