Energie:Blühende Mondlandschaften

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Der Kohlebergbau hinterlässt im Osten Deutschlands klaffende Wunden im Boden. Ausgerechnet diese Kraterlandschaften sollen künftig die Artenvielfalt retten.

Von Kathrin Zinkant

Hohenmölsen ist wohl einer der Orte, wegen denen der Osten Deutschlands ein Land ohne Lächeln sein soll. Viel ist hier jedenfalls nicht los. Auf der Straße sind keine Menschen unterwegs. Einen Bahnhof gibt es nicht, die Busse fahren im Halbstundentakt an sterilen Siedlungen vorbei. Alles ist ordentlich, alles wirkt leer. Über den Schotterplatz vor dem neu errichteten Bürgerhaus fegt am Morgen ein kalter Wind.

Und doch geht es an diesem nebligen Tag im September um Leben - und um die Zukunft. Hohenmölsen liegt mitten im Mitteldeutschen Revier, einer der produktivsten Braunkohleregionen der Welt, in einem Land, das diesen fossilen Brennstoff wie kein anderes aus der Erde schaufelt. Deutschland fördert und verbraucht rund 170 Millionen Tonnen Braunkohle im Jahr, das ist fast ein Fünftel der globalen Fördermenge. Und das, obwohl der Brennstoff alles hat, bloß keine Zukunft. Zwar würden die Reserven hierzulande noch für zwei Jahrhunderte Tagebau ausreichen. Die jüngere Schwester der Steinkohle liefert unverarbeitet aber nur ein Drittel der Energie, zugleich produziert die Verbrennung mehr Schadstoffe. Neben dem Treibhausgas Kohlenstoffdioxid gehören dazu Schwefeldioxid, Feinstaub, Quecksilber und Dioxine. Und weil moderne Filter in den Kraftwerken zwar heute schon einen Teil dieser Klima- und Gesundheitsgifte aus dem Rauch sieben, aber eben nicht das CO₂, sind die Tage des dreckigen Supertorfs gezählt. Auch wenn das hier noch niemand so richtig wahrhaben will.

Ein Teil der Wüstungen soll Pflanzen und Tieren eine neue Heimat bieten

Was aber wird aus den riesigen Scharten, die der Tagebau in die Landschaft reißt? Neue Landschaft, das ist schon von Rechts wegen vorgeschrieben. Allerdings haben sich die Ansichten darüber verändert, was genau aus den ehemaligen Tagebauten entstehen soll. Mindestens zwei Prozent der Flächen sollen dem Erhalt der Biodiversität gewidmet werden, das ist auch das erklärte Ziel der Bergbaugesellschaften wie der Mitteldeutschen Braunkohlengesellschaft, kurz Mibrag, geworden. Gemeinsam mit der Heinz Sielmann Stiftung und Fachleuten aus Naturschutz und Landschaftsgestaltung trifft sich die Mibrag heute zum zweiten Mal zu einer Fachtagung.

Man zeigt Engagement, hat Umweltabteilungen gegründet und Geld bereitgestellt. Vor zwei Jahren hat die Mibrag zudem mit der Heinz Sielmann Stiftung angefangen, in der Bergbaufolgenlandschaft bei Zeitz ein Biotop zu entwickeln, das später am Tag noch besucht werden soll. Eine Wildnis, wie Heiko Schumacher von der Stiftung sagt. Wobei der Begriff unter den Fachleuten aus Naturschutz und Bergbau strittig ist. Aber immerhin, man redet miteinander, das war vor einigen Jahren noch undenkbar. "Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass wir jetzt gemeinsam Konzepte besprechen, die ich vor 25 Jahren noch vergeblich versucht habe durchzusetzen", sagt Anita Kirmer von der Fachhochschule Anhalt, die hier heute einen Vortrag hält.

Natürlich hat das alles auch viel mit Imagepflege zu tun. "Uns bewegt nicht nur Kohle, sondern vor allem die Zukunft", steht auf dem Aufsetzer, der an anderen Tagen Besucher oder Arbeiter durch die Mondlandschaft des Tagebaus karrt. Heute wird sich das hochstehende Gefährt über einen Feldweg rackern, nur wenige Tausend Meter von den monströsen Abraumbaggern entfernt. Es geht westwärts, in die Nähe des Ortes, wo vor 50 Jahren Döbris war, eine Gemeinde im Zeitzer Ortsteil Pirkau. Wie mehr als 300 Dörfer wurde Döbris wegen der darunter verlaufenden Kohleflöze "devastiert", also planvoll zerstört und in den Jahren danach abgebaggert.

Früher wurde Braunkohle auch unter Tage abgebaut, inzwischen hat sich der Abtrag von oben etabliert. Das Ergebnis sind Mondlandschaften wie hier in Profen. (Foto: Jan Woitas/dpa)

Das klingt nach vergangener Praxis, aber ein Ende der Devastationen ist noch immer nicht in Sicht: Für den benachbarten Tagebau Vereinigtes Schleenhain in Sachsen sollen weitere Ortsteile der Kleinstadt Groitzsch weichen. Laut Mibrag geht es darum, die Versorgung des dortigen Kraftwerks Schleenhain bis ins Jahr 2040 zu sichern. So stand es jedenfalls noch im vergangenen Jahr in einer Pressemitteilung des Unternehmens. Vom Kohleausstieg also keine Rede. In den Wüstungen des Braunkohleabbaus verhallen die Warnungen vor dem Klimawandel ungehört.

Heute erheben sich über den Hügeln des Abraums agrarische Nutzflächen, Kilometer weit ist die Landschaft von gepflügten Äckern geprägt, erst nach gut zehn Minuten erreicht der Bus ein Fleckchen Land, das nicht bewirtschaftet wird. Ein junger Wald mit alten Hochständen, darunter allerlei Kraut und Busch, daneben eine offene Wiese an deren Rändern steinerne Böschungen angelegt sind. In der Ferne ragt der Kamin des nächsten Kraftwerks in den Himmel. Ab hier geht es zu Fuß weiter, erst einmal über die Wiese, die sich bei näherer Betrachtung weniger als wild denn als kürzlich gemäht erweist. Offenland ist hier nun mal keine dauerhafte Landschaftsform, fast überall entsteht über kurz oder lang Wald. Ohne Weidetiere hilft da nur der Einsatz von Maschinen. Einige der Fachleute beugen sich herunter, heben Erdklümpchen auf, zerreiben sie prüfend zwischen den Fingern.

So wie hier im benachbarten Tagebau Schleenhain schaufeln auch die Bagger von Profen um die zehn Millionen Tonnen Braunkohle jährlich aus dem Boden. (Foto: Peter Endig/dpa)

Der Boden unterscheidet sich in Bergbaufolgelandschaften drastisch von normalen Böden. Verschiedene, zum Teil schwefelhaltige Schichten des Untergrunds werden beim Abräumen durchmischt. Das Ausgangsmaterial für die Renaturierung ist daher oft sauer, der Anteil an Bodenbakterien gering, der Gehalt an Nährstoffen ohnehin niedrig. Überlässt man die Wüstungen sich selbst, das heißt der Sukzession von erst kleinen, dann größeren Pflanzen, die sich von allein ansiedeln, passiert in den ersten Jahren meist wenig, dann wachsen besonders gerne Neophyten, also invasive Arten wie die Goldrute, der Sanddorn, die Ölweide. Ökologischen Nischen, die bedrohten Arten Zuflucht bieten, muss nachgeholfen werden. Mischungen aus Samen und Erde etwa, die aus der Gegend stammen und fachsprachlich Mahdgut heißen. Auf die Brachen aufgetragen, können sich so recht schnell typische Pflanzen ansiedeln.

Manchmal muss aber auch der Bagger ran. Bis in 1,50 Meter Tiefe wurde der Boden auf acht Streifen im Biotop der Kippe Pirkau ausgekoffert, mit Sand gefüllt, dann mit Bruchstein und Totholz belegt, so, wie die Zauneidechse es mag und kaum mehr findet. Gerade der Tagebau vertreibt die Reptilien aus ihrem Lebensraum. Die wenig ansehnliche, in der Wiese aber auffällige Böschung soll Zuflucht bieten. 452 Tiere wurden dafür im Vorfeld des Tagebaus Profen eingefangen und hier ausgesetzt. Wie viele jetzt, nach zwei Jahren, noch hier leben, wissen die Artenschützer nicht. Gelegentlich lassen sich einzelne Tiere auf dem Totholz beobachten, wenn sie sich in der Sonne wärmen. Doch auch auf den Böschungen wuchern bereits Büsche und junge Bäume. "Es ist zu hoffen, dass sich künftig eine engagierte Gruppe von Freiwilligen darum kümmern wird", sagt Ralf Donat, der das Biotop Pirkau für die Heinz Sielmann Stiftung betreut.

Dass sich jemand kümmern muss, das gilt auch für die Wiese. Und tatsächlich sind diese Helfer schon da. Donnernd kommen sie aus einem Stück Wald gerannt, eine Herde von schwarzen Galloway-Rindern. Nach ein paar Hundert Metern bleiben sie stehen und blicken neugierig zu der Besuchergruppe herüber. Die "Großherbivoren" sollen demnächst die Maschinen ersetzen, die bislang noch nötig sind, um die Fläche vor den Habitaten der Zauneidechse offen zu halten. Mit ihrem dichten doppellagigen Fell können die hornlosen Tiere hier ohne größere Fürsorge grasen, zumindest hoffen das die Experten. Eine Lösung wird derweil noch für die Teiche gesucht, die vor allem Amphibien anziehen sollen. Das Wasser sickert stetig fort, immer wieder müssen die Kleinstgewässer aufgefüllt werden. Demnächst könnten Folien im Boden angebracht werden, um die Kuhlen nach unten hin abzudichten und die vielen Frösche, Molche und Krötenarten zu schützen, die sich inzwischen schon hier angesiedelt haben oder noch ansiedeln könnten. Wer sie sehen will, muss allerdings genau hingucken. Ein Besucher erwischt einen kleinen Grünfrosch, der von allen begutachtet wird, genau so wie die verschiedenen Heuschrecken, die hier auf dem Boden herumhüpfen und mit gekonnten Griffen eingefangen werden.

Was immer aus dem Kohlebergbau in den kommenden Jahren auch werden wird, im Mitteldeutschen Revier werden mit ziemlicher Sicherheit nicht die Bergleute das Licht ausmachen, falls die Bagger eines Tages stillstehen. Es werden die sein, die, wenn nicht um echte Wildnis, dann doch gegen die Natur um etwas kämpfen, das einer Idee von Wildnis nahe kommt. Ein Zuhause für die Vielfalt, von Menschen gemacht zwar, aber immerhin. Es ist ja womöglich die Zukunft dieser Region: Als Ort, an dem man noch was entdecken kann - wenn man die Augen aufmacht.

© SZ vom 02.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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