Hamm-Uentrop: Ende eines Reaktors:50 Jahre Abklingzeit

Ein Atomkraftwerk wird nicht einfach stillgelegt. Die kommenden Generationen müssen die strahlenden Überreste endlagern. Im Fall von Hamm-Uentrop sind das 6000 Kubikmeter. 2045 soll es abgerissen sein.

Bernd Dörries, Hamm

Radioaktivität kann man nicht sehen und nicht spüren. Man kann sie nicht hören und nicht schmecken. Das hört man immer wieder in diesen Tagen, wenn die Gegner über die Gefahren der Atomkraft sprechen. Und es scheint ja plötzlich nur noch Gegner zu geben und keine Befürworter mehr. Sie erzählen, dass Radioaktivität nicht einfach verschwindet, die Atomkraftwerke sollen es aber schon. So schnell wie möglich.

Reaktorgebäude des Hochtemperaturreaktors Hamm Uentrop Schmehausen, 1986

Das Reaktorgebäude Hamm-Uentrop im jahr 1986: Der Kühlturm wurde nach der Stilllegung gesprengt, heute ist hier wieder Kohle die Zukunft.

(Foto: SZ)

Wenn man in Hamm-Uentrop durch die Hauptstraße an den Ortsrand fährt, dann sind die Spuren der Atomkraft in diesem Teil Westfalens so unsichtbar wie die Radioaktivität selbst. Ein Schild zeigt den Weg zu einem buddhistischen Tempel in einem Gewerbegebiet, und dahinter stehen die Kühltürme des neuen Kohlekraftwerks wie riesige Kathedralen. Die Kohle ist hier auf einmal wieder die Zukunft und das, was einmal die Zukunft sein sollte, ist wieder verbannt und verschlossen in einen etwa 40 Meter hohen Kasten.

Er sieht nicht aus, wie Atomkraftwerke sonst so aussehen, es gibt keinen Kühlturm mehr, der wurde gesprengt. Der Klotz könnte alles sein, ein Hochregallager für Bürostühle vielleicht. Nur ein kleines Schild gibt einen Hinweis: THTR steht da, die Abkürzung für den Thorium-Hochtemperaturreaktor, der einmal die sichere Zukunft sein sollte. Die Befürworter der neuen Technologie sprachen so, als werde hier quasi Bio-Atomkraft aus regionalem Anbau produziert. Man kann in diesen Tagen zwei Dinge besichtigen in Hamm-Uentrop, die sonst eher selten sind. Ein Atomkraftwerk, das tatsächlich für immer heruntergefahren wurde und sicher eingeschlossen. Und Menschen, die Atomkraft noch immer für sicher halten und das auch so sagen.

Als sie den Reaktor 1983 hochgefahren haben, arbeiteten hier 250 Ingenieure und Techniker, heute hat Andreas Reisch eine von zweieinhalb Planstellen. Er läuft mit einer Taschenlampe durch eine riesige Halle, die eigentlich keinen Zweck mehr hat, außer da zu sein. Reisch war dabei, als der Minister am Anfang den roten Knopf drückte und eine hoffnungsfrohe Rede hielt, er war auch dabei, als der Reaktor still abgeschaltet wurde. Jetzt ist Reisch immer noch da. Er hat mitentwickelt, mitbegraben und jetzt ist er der Friedhofswächter? Er sieht das anders: "Das hat man selten in einer Ingenieursgeneration, dass man alle Phasen vom Anfang bis zum Ende mitmacht. Das ist spannend."

Am Anfang stand die Hoffnung auf eine sichere Technologie. "Der Hochtemperaturreaktor ist katastrophenfrei", sagt Reisch noch heute. Es war damals eine neue Methode der Kernspaltung, die im Forschungszentrum Jülich erprobt und hier in Hamm das erste Mal ans Netz gehen sollte. Der Kernbrennstoff lag nicht in Stäben, sondern in Hunderttausenden sechs Zentimeter großen Kugeln, die in den Reaktorkern gefüllt wurden, weshalb man diesen Typ auch als Kugelhaufenreaktor bezeichnete. In jeder der Kugeln lagen noch einmal 15 000 Brennstoffkapseln mit Uran. Hochtemperaturreaktor hieß er, weil das Helium, mit dem hier gekühlt wurde, 800 Grad heiß und dann in Dampf und schließlich in Energie umgewandelt wurde. Der Reaktorkern selber konnte kaum heißer als 2400 Grad werden, die Graphitummantelung der Kugeln schmilzt erst bei 3800 Grad.

"Selbst wenn bei uns die Kühlung versagt hätte, wäre wahrscheinlich nichts passiert", sagt Reisch. Eine Kernschmelze sei fast ausgeschlossen. Hochtemperaturreaktoren laufen nach Ansicht ihrer Entwickler nicht heiß, das Uran wird ohne Kühlung zwar erst wärmer, dann gerät die Kettenreaktion ins Stocken, die Temperatur sinkt ab oder bleibt stabil, ohne dass man etwas von außen tun müsste. Es klingt wie die Lösung vieler Probleme der Kernkraft. Und so ähnlich sieht es Reisch auch heute noch. Dennoch wurde der Meiler in Hamm abgeschaltet, weil der Betrieb nicht störungsfrei verlief. Es gab 125 "Ereignisse", die gemeldet werden mussten, Tausende Brennelementekugeln zerbrachen, womit man nicht gerechnet hatte. Die Herstellung der Kugeln war teuer und die abgebrannten Kugeln können nur sehr schwer wieder aufbereitet werden. Die Leistung des THTR ist weit geringer als die der üblichen Reaktoren und daher wirtschaftlich nicht so interessant.

Fünf Meter dicke Betonhülle

Es wäre vielleicht trotzdem weitergegangen in Hamm, wenn nicht genau in der Zeit des Unglücks von Tschernobyl radioaktives Helium aus dem Kühlkreislauf entwichen wäre. Es sei nicht sehr viel gewesen, man habe es nur berechnen aber nicht messen können, behaupten die Betreiber. Aber die SPD-Landesregierung wollte aus der Atomkraft raus und kein Geld mehr geben für die Anlage, und so wurde der Reaktor 1989 endgültig stillgelegt. Vier Milliarden Mark hat das Kraftwerk gekostet, sechs Mal so viel wie ursprünglich geplant. Wohl eine weitere Milliarde Euro werden für Rückbau und Einlagerung nötig sein.

Nach dem Atomgesetz gibt es zwei Möglichkeiten, was mit den stillgelegten Anlagen passieren kann. Der sofortige Rückbau oder der sichere Einschluss. In Hamm entschied man sich dafür, das Innere des Reaktors zu verschließen, weil es letztlich die billigere Variante ist. Bei einem sofortigen Rückbau hätte ein Drittel mehr Material ins Endlager gebracht werden müssen, so liegt der Meiler erst einmal fünfzig Jahre brach und klingt ab. Etwa 6000 Kubikmeter Überreste wie Stahlträger oder Graphitteile müssen dann ins Endlager gebracht werden, das es noch nicht gibt. Bei einem sofortigen Rückbau müsse das Material erst einmal in ein Zwischenlager und da ist es für die Betreiber, unter ihnen RWE und einige Stadtwerke, deutlich günstiger, den Reaktor selbst zu einem Zwischenlager zu machen.

Der Reaktor hat bereits eine fünf Meter dicke Betonhülle. Allein vier Jahre brauchte es, damit der Antrag auf Stilllegung dann auch genehmigt wurde. Die Brennkugeln wurden in 300 Castoren ins Zwischenlager Ahaus gebracht, für die verstrahlten Gebäudeteile ist der ehemalige Reaktor nun sein eigenes vorübergehendes Lager. Alle Leitungen, die aus dem Inneren kommen, aus dem Reaktorkern und den Kühlkreisläufen, wurden versiegelt. Innerhalb der Hülle herrscht stetig Unterdruck, damit etwa auftretende Radioaktivität nicht nach außen gelangt. Die Daten Tausender Messpunkte werden direkt an die Atomaufsicht geschickt. In der Umgebung des Fundaments wird das Grundwasser kontrolliert und abgepumpt, dabei gab es 1993 einen Zwischenfall, weil eine Pumpe nicht anlief und sich im "Keller" des AKW Wasser sammelte. Eine Bürgerinitiative behauptet, das radioaktive Wasser sei verschwunden, die Betreiber sprachen hingegen von Verdunstung. Eine ernste Gefahr für die Bevölkerung bestand aber nicht.

Reisch sagt, es sei derzeit theoretisch auch schon möglich, dass sich ein Mensch für kurze Arbeiten im Reaktorraum aufhalte, ohne Schaden zu nehmen, so gering sei die Strahlung dort. Reisch hat noch zehn Jahre bis zur Rente, so lange wird er wohl die 150 Prüfungen im Jahr beaufsichtigen und dann alles vorbereiten für die Nachfolger, die im Jahr 2030 mit dem 15 Jahre dauernden Abriss beginnen sollen.

Mit dem Abriss eines Kraftwerks, das nur 16410 Stunden am Netz war. Obwohl es doch die sichere Zukunft sein sollte. Heute ist es einfach nur noch ein Kasten unter den riesigen Kühltürmen der alten Kohletechnologie, die nun doch wieder die modernere ist. Reisch sagt, es sei natürlich schade, dass man den THTR damals abgeschaltet habe und auch voreilig. Traurig sei er aber nicht, wenn er durch die großen Hallen laufe, da müsse man sich um ihn keine Sorgen machen. Er sehe das ganz nüchtern. "So ist der Ingenieur."

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