Empathie und Hilfsbereitschaft:Die gute Seite des Menschen

Lesezeit: 7 min

Menschen sind von Natur aus füreinander da: Teilnehmer einer Anti-Pegida-Kundgebung in Dresden. (Foto: dpa)

Konservative Politiker und Ökonomen unterstellen gerne, dass der Mensch von Natur aus egoistisch, rücksichtslos und böse sei. Doch diese Behauptung lässt sich zum Glück leicht entkräften. Über Mitgefühl und Nächstenliebe.

Von Werner Bartens

Jetzt geht wieder das Gebot aus, dass alle Welt den Bedürftigen helfen solle. Millionen sind auf der Flucht, haben weder genug zu essen noch eine passable Unterkunft. Doch wer folgt tatsächlich dem Aufruf, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen und ihnen eine Bleibe anzubieten?

Man weiß ja nicht, wie riskant das ist, ob man sich nicht Elend, Gewalt und Krankheit ins Haus holt - und überhaupt: Sollen sich doch andere kümmern. Oder jeder um sich selbst. Sobald der Mensch überlegt, sobald er abwägt, ob es nicht auch mit weniger oder gar nichts getan ist, bleibt die unmittelbare Fürsorge schnell auf der Strecke. Ein bisschen spenden, vielleicht. Aber sonst?

Erklärungen, warum man nicht das tut, was aus Anteilnahme und Brüderlichkeit geboten wäre, gibt es viele: Ist man nicht selbst in Gefahr, wenn man einen Fremden zu sich holt, der durch Mord und Totschlag traumatisiert wurde? Als Einzelner kann man sowieso nichts machen. Und schließlich: Wenn man sich für alles Elend der Welt verantwortlich fühlt, kann man sich ja mit nichts anderem beschäftigen.

Ihr Forum
:Glauben Sie an das Gute im Menschen?

Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf - wenn man das aktuelle Kriegsgeschehen auf der Welt betrachtet, könnte man Thomas Hobbes schnell beipflichten. Doch lässt sich diese Behauptung leicht entkräften. Im Grunde ist der Mensch von Natur aus solidarisch und kooperativ. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Diskutieren Sie mit uns.

Alle gegen alle?

Stimmt es also doch? Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, wie Thomas Hobbes 1651 im Leviathan schrieb, ständig im Krieg aller gegen alle? Genügend Beispiele gäbe es ja. Wie fand man denn unseren frühen Urahn vom Alpenhauptkamm in seinem eisigen Grab? Mit einer Pfeilspitze in der Schulter wurde Ötzi am Gletscher zurückgelassen, Wunden an Kopf und Brust, Schnitte an den Händen.

Die Geschichte der Menschheit kann als einzige Abfolge von Niedertracht und Betrug gelesen werden, als lückenlose Kette von Brutalität und Gewalt. Von den frühesten Schädelspaltern der Steinzeit bis zu den ausgefeilten Foltertechniken in den Verliesen finsterer Regime und dem millionenfachen Völkermord, für die jeder Kontinent seine Schreckensorte kennt, nichts als Grausamkeit und Blutvergießen.

Doch man muss nicht Bandenkriege und Genozide, Pfählungen und Schändungen in den Kerkern von Unrechtsstaaten bemühen, die Gemeinheit von nebenan ist Homo sapiens' alltäglicher Begleiter.

In der Figur des Finanzhais Gordon Gekko, so fiktional wie wahrhaftig, zeigen Rücksichtslosigkeit und Erniedrigung ebenso schlaglichtartig ihre hässlichste Fratze wie in der monströsen Ignoranz, mit der ein überfahrenes Kind in China am Straßenrand liegen gelassen wird.

Von Natur aus hilfbereit

Wer angesichts dieses Kaleidoskops des Schreckens das Gute im Menschen finden will, hat kein leichtes Spiel. Und muss sich wohl besser an die Instinkte halten, an das, was "von Natur aus" hervorbricht, wenn der Mensch nicht lange überlegt. Dann ist er nämlich durchaus hilfsbereit - und menschlich.

Setzt sich für andere ein und riskiert sogar sein Leben, auch wenn er keinen Nutzen davon hat und ums Leben kommen könnte. Aber er kann nicht anders, denn er folgt einem Trieb. Und der sagt ihm, dass er helfen muss, auch wenn der Preis hoch ist.

Wesley Autrey ist so ein Mensch. Er hat nicht lange überlegt an jenem 2. Januar 2007, sagt er, als er die Gefahr mit ziemlicher Geschwindigkeit heranrasen sah. Autrey wartete mit seinen kleinen Töchtern in Manhattan auf die nächste U-Bahn.

Es war um die Mittagszeit und ein junger Mann, der 20-jährige Cameron Hollopeter, bekam plötzlich einen epileptischen Anfall. Zunächst blockierte Autrey mit einem Stift den Kieferschluss des Studenten, damit dieser sich nicht die Zunge zerbiss. Doch sofort drohte die nächste Gefahr. Hollopeter konnte sich nicht mehr halten, wurde ohnmächtig und fiel auf die Gleise.

Autrey sah die Lichter der U-Bahnlinie 1 durch den Tunnel kommen und handelte in Bruchteilen von Sekunden. Eine Frau hielt seine Töchter fest und der 50-jährige Bauarbeiter stürzte sich im Hechtsprung auf die Gleise. Er dachte, dass er Hollopeter noch aus der Fahrrinne würde herausziehen können, doch die Bahn war schneller.

Autrey warf sich auf den Studenten, drückte ihn nach unten. Trotz Vollbremsung fuhr nahezu der komplette Zug über Beide hinweg - und zwar so dicht, dass auf Autreys Kappe Schmierspuren der Waggons zu sehen waren.

"Ich sah jemanden, der brauchte Hilfe und dann habe ich das getan, was ich für richtig hielt."

Der Lebensretter machte nicht viel Aufheben um seine Tat. "Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich etwas besonders Spektakuläres geleistet habe", sagte er später einem Reporter der New York Times. "Ich sah jemanden, der brauchte Hilfe und dann habe ich das getan, was ich für richtig hielt."

Als Bauarbeiter habe er außerdem eine gewisse Erfahrung darin, enge Räume abzuschätzen - und in diesem Fall war sein Urteil ja auch zutreffend: "Der Zug ließ mir noch genügend Platz."

Wie dankbar und überrascht Medien wie Bürger der USA waren, dass sie einer der ihren an grundlegenden Instinkte der Menschlichkeit erinnert hatte, zeigte sich in den Reaktionen auf Autreys Heldentat. Der Präsident der New York Film Academy, an der Hollopeter studierte, schenkte Autrey 5000 Dollar in bar und ein Stipendium in gleicher Höhe für seine Tochter. Von Milliardär Donald Trump erhielt Autrey 10 000 Dollar.

Zudem bekam der "Held von Harlem" ein lebenslanges Playboy-Abo, eine Familienreise in die Disney World, einen Jeep Patriot und einen Haufen Gutscheine, darunter für ein Beyoncé-Konzert, Computer für seine Töchter und eine Dauerkarte für das Basketball-Team der New Jersey Nets. Besonders erfreut haben wird ihn wohl die kostenlose einjährige Parkerlaubnis überall in New York.

Offenbar ist Einfühlung und Hilfsbereitschaft eine automatische Reaktion, ein Impuls, dem sich kein Mensch entziehen kann, es sei denn, er ist ein Soziopath. Man kann gar nicht anders, sondern muss auf prekäre Situationen reagieren, in denen sich andere befinden. Mögliche eigene Vorteile spielen dabei keine Rolle. "Ginge es nur um die Ausbeutung anderer, hätte sich die Evolution nie mit der Empathie abgegeben", schreibt der Verhaltensforscher Frans de Waal.

Um die Natur des Guten zu entdecken, muss man die Ursprünge der Gefühle dort suchen, wo sie unverfälscht zu beobachten sind, bei Kleinkindern und Tieren. Wie im Fall des Neugeborenen, der allein dalag, nackt und kalt. Vielleicht hatte ihr ausgeprägtes Mitgefühl damit zu tun, dass sie selbst gerade Nachwuchs bekommen hatte.

Sie fand den wenige Stunden alten Jungen auf einem Feld am Stadtrand von Buenos Aires. Wimmernd lag das Baby dort, es war von seiner 14-jährigen Mutter ausgesetzt worden. Das Neugeborene wäre unweigerlich erfroren, denn die Temperaturen lagen in jenen Tagen des Jahres 2008 nur knapp über dem Gefrierpunkt.

Doch da war ja sie - kein Mensch, sondern die Schäferhündin "China". Sie nahm das Neugeborene vorsichtig mit der Schnauze auf und trug es zu den sechs Welpen, die sie vor kurzem geboren hatte.

Die Wärme der Hundefamilie rettete das Kleinkind vor dem sicheren Tod, denn es dauerte Stunden, bis ein Anwohner das schreiende Baby bemerkte und die Polizei alarmierte. Im Krankenhaus stellten die Ärzte fest, dass der kleine Junge unverletzt geblieben war und kaum Unterkühlungen aufwies. In Argentinien wurde die Hündin wie ein Held gefeiert.

Irrtum? Keineswegs.

Politiker und Ellbogen-Ökonomen, die den Egoismus als Tugend und zentrale Triebfeder der menschlichen wie der tierischen Existenz verstehen, um ungezügelten Wettbewerb zu rechtfertigen, sprechen in solchen Fällen gerne von einem "Versehen" der Natur oder einer Verwechslung.

Eine Verwechslung oder ein Irrtum liegt hier keineswegs vor. Säugetiere haben von sich aus den Impuls, sich hilfloser Jungtiere anzunehmen. Sie tun das von Natur aus, nicht weil sie nicht aufgepasst und sich in der Spezies vergriffen haben.

Auch in anderen Situationen stellen sich Lebewesen vor andere und riskieren Kopf und Kragen. Im kalifornischen Roseville rettete der Labrador "Jet" seinem sechsjährigen Freund Kevin das Leben, als dieser von einer Klapperschlange angegriffen wurde. Statt des Jungen wurde der Hund gebissen - und verletzt. Der Labrador wurde mit aufwendigen Bluttransfusionen und nach etlichen Aufenthalten in der Tierklinik gerettet.

Wilde Tiere als Lebensretter

Aber auch Lebewesen, die an Menschen nicht gewöhnt sind, können offenbar Mitgefühl mit Homo sapiens empfinden und Gutes tun. An der Nordküste Neuseelands wurden 2004 vier Schwimmer plötzlich von Delfinen bedrängt. Die Tiere schwammen in engen Kreisen um die Menschen herum und erst nach einiger Zeit verstanden die Schwimmer, warum sie immer wieder zurückgedrängt wurden: In unmittelbarer Nähe war ein drei Meter langer Weißer Hai unterwegs.

Die Delfine blieben 40 Minuten bei den Menschen und beschützten sie, bis der Meeresräuber verschwunden war. Dann erst ließen sie von ihnen ab und die Schwimmer konnten erleichtert ans Ufer zurück.

Selbstsüchtige Motive können diesen Tieren kaum unterstellt werden. Sie haben impulsiv mitfühlend und unter Einsatz ihres eigenen Lebens gehandelt, ohne dass sie eine Belohnung dafür erwarten konnten. Und sie verstanden, dass hier Gefahr drohte, auch wenn die Angriffe nicht ihnen galten. Muss man da nicht an das Gute wenigstens im Tier glauben?

Und der Mensch? Was hat er dem Menschen schon alles angetan? Hat gemordet und gemeuchelt und sich am Leid der Unterdrückten ergötzt. Und dann, wie zum Hohn, das verbreitete Phänomen, das man vom erbarmungslosen Tyrannen kennt: Lässt feindliche Volksgruppen oder politische Gegner abschlachten oder in der Haft verrotten, zeigt sich aber zu Hause als liebevoller Kümmerer, der seine Kinder verhätschelt, sich um die Katze sorgt und weinen muss, wenn der Hund Blähungen bekommt. Das abgrundtief Böse zeigt seine gute Seiten?

Etliche Verhaltensforscher sind sich einig, dass die Bereitschaft, gut zu sein, viel mit Identifikation zu tun hat, sich also gerne unter Wohlfühlbedingungen zeigt. Das Gute, ein Luxusverhalten?

Mitgefühl empfinden wir besonders mit jenen, die wir als zugehörig zu unserer Gruppe ansehen - egal ob es sich um weltanschauliche, ethnische, religiöse oder berufliche Zeichen der Wiedererkennung handelt. Einer von uns, das kann sogar die Leidenschaft für den selben Fußballverein bedeuten - oder die Schwärmerei für eine besondere Band. Und besonders ausgeprägt ist die Anteilnahme bei Verwandten oder Mitgliedern der Familie.

Mäuse leiden mit Käfiggenossen mit - und bekämpfen sie kurz darauf brutal als Konkurrenten

Tiere kennen diese Formen der Abstufung ebenfalls. Von Mäusen ist bekannt, dass sie stark mit dem Schmerz von Artgenossen mitleiden, wenn es sich dabei um Mitbewohner des eigenen Käfigs handelt. Allerdings zeigen dieselben Tiere, die eben noch Anteil am Schicksal anderer genommen haben, ein erstaunliches Maß an Brutalität, wenn sie in eine Konkurrenzsituation geraten.

Affen, die gemeinsam aufgewachsen sind und sich das Fell gepflegt und gestreichelt haben, bekämpfen sich bis aufs Blut, beißen und quälen einander, wenn sie später im Kampf um die territoriale Vorherrschaft in ihrem Lebensraum aneinander geraten.

Tiere sind in dieser Hinsicht wie Menschen: Es kommt auf den Zusammenhang an, in dem sie anderen begegnen. Sie können eben noch enge, liebevolle Bindungen eingegangen sein, doch im nächsten Moment verhalten sie sich wie Ungeheuer und verletzen und schänden einander auf grausamste Weise und lassen Unterlegene sterbend auf dem Schlachtfeld zurück, ohne sich weiter um sie zu kümmern.

Solidarisch und kooperativ, wenn keine unmittelbare Konkurrenz oder Gefahr droht

Dabei finden sich Mitgefühl und Gerechtigkeitssinn schon bei kleinen Tieren wie auch bei kleinen Menschen. Bereits im Vorschulalter teilen Kinder fair, auch wenn sie sich selbst mehr zuschanzen könnten. Sie bestrafen Egoisten sogar dann, wenn es zu ihrem eigenen Nachteil ist und helfen und leiden mit, wenn sie Gleichaltrige in Not sehen.

Fast alle Lebewesen "verhalten sich im richtigen Moment solidarisch und kooperativ", schreibt der Biologe Frans de Waal. Nämlich dann, wenn keine unmittelbare Konkurrenz oder Gefahr droht, wenn Kleinmut und Angst gerade keinen Ausgang haben - und sich das Gute ungebremst ausleben kann.

© SZ vom 24.12.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: