Empathie:Streit um das soziale Hirn

Teilen, trösten, helfen - ohne Empathie geht wenig. Doch ist Einfühlungsvermögen im Hirn programmiert oder entsteht es durch Erfahrung? Neue Experimente heizen die Debatte weiter an.

Hubertus Breuer

Stellen Sie sich vor: Sie legen eine Tafel Schokolade in eine Schublade und verlassen das Zimmer. Ihr Partner nimmt die Schokolade dann aus der Schublade und versteckt sie unter einem Stapel Zeitungen. Wo werden Sie die Schokolade suchen, wenn Sie zurückkommen? Klar, in der Schublade natürlich.

Kinder beim Teilen, AP

Teilen, trösten, helfen - worauf basiert dieses Verhalten? Seit 30 Jahren streiten Forscher darüber.

(Foto: Foto: AP)

Einen Dreijährigen allerdings würde dieses Verhalten überraschen, weiß die Hirnforscherin Rebecca Saxe. Die 30-jährige Assistenzprofessorin am Massachusetts Institute for Technology (MIT) interessiert sich unter anderem dafür, wie Kinder die Reaktion des um die Schokolade Geprellten einschätzen. Ein Fünfjähriger etwa, der die geschilderte Situation beobachtet, weiß, dass dieser in der Schublade suchen wird. Ein dreijähriges Kind hingegen ist überzeugt, er würde die Schokolade unter dem Zeitungsstapel suchen. Dreijährige verstehen noch nicht, dass es in den Köpfen ihrer Mitmenschen Gedanken geben kann, die nicht mit der Realität übereinstimmen. Das schaffen Kinder in der Regel erst ab fünf Jahren.

Dieses Einfühlungsvermögen, die Empathie also, ist das Fundament unseres sozialen Lebens und macht Gesellschaft überhaupt erst möglich. Menschen fühlen sich ständig in das Denken und Fühlen andere Menschen ein. Sie spüren den Schmerz und die Freude anderer, sie verstehen die Absicht hinter einer zum Gruß ausgestreckten Hand, oder sie sinnieren, was jemand nach einem Rendezvous von ihnen denkt. Doch obwohl die Empathie so vertraut erscheint, ist noch wenig verstanden, wie sie funktioniert: "Die Experten streiten sich seit 30 Jahren - und zurzeit wogt es besonders heftig", sagt Saxe.

Im Zentrum der Debatte stehen zwei unterschiedliche Erklärungsmodelle. Nach dem einen Konzept simulieren spezielle Hirnzellen quasi automatisch das Innenleben anderer Menschen. Dagegen steht die Idee, dass wir uns die Gefühle und die Ansichten von Mitmenschen nur aufgrund von Vorwissen oder äußerer Anhaltspunkte geistig erschließen. Fachleute sagen, Menschen bilden eine "Theory of Mind".

Als Hirnforscher in den 1990er Jahren Nervenzellen entdeckten, die auf das Verhalten von Mitmenschen reagieren, schien die Entscheidung für das Simulations-Lager gefallen zu sein. Diese sogenannten Spiegelneuronen finden sich unter anderem im prämotorischen Kortex, einem Teil der Großhirnrinde, der bei der Bewegungssteuerung eine Rolle spielt, und in dem für Sprache zuständigen Broca-Areal.

Sie feuern, wenn man selber eine körperliche Handlung ausführt, aber auch, wenn man sie nur bei einem anderen beobachtet. Der Kopf spiegelt den Akt des anderen also. Mit den Spiegelneuronen, so glaubte man, könne man das soziale menschliche Gehirn abschließend erklären. Vittorio Gallese, einer der Mitentdecker der mitfühlenden Neuronen, spekulierte, die Nervenzellen erlaubten, "Ziele, Absichten, und Ansichten unserer Mitmenschen" zu begreifen.

Neuronen, die Gedanken lesen

In den vergangenen Jahren haben Forscher aber einen zweiten neuronalen Schaltkreis entdeckt, der unsere Empathie ebenso prägt und die Theory-of-Mind-Modelle stützt. So stieß Saxe während ihrer Doktorarbeit vor sechs Jahren eher zufällig auf diese Hirnregion. Sie bemerkte, dass bei Experimenten wie dem eingangs geschilderten, konstant ein kleines Areal hinter dem rechten Ohr aktiv ist. Es liegt im Übergangsbereich zwischen Schläfen- und Scheitellappen, der sogenannten rechten temporo-parietalen Übergangsregion, kurz: rTPJ. "Diese Neuronen haben keine andere Funktion, als die Gedanken anderer Menschen zu lesen", sagt Saxe.

Ob die rTPJ tatsächlich als Dreh- und Angelpunkt unseres Nachdenkens über das Denken anderer Menschen gelten kann, hat die Forschung noch nicht entschieden. Doch gehört dieses Areal zweifellos zu einem sozialen Netzwerk im Gehirn, das uns erlaubt, andere Menschen zu verstehen. Zu ihm gehören wahrscheinlich auch Regionen im zentralen Stirnhirn und der Emotionsschalter des Gehirns, die Amygdala.

Dieser neuronale Schaltkreis scheint vor allem höherstufige Kognitionsprozesse zu steuern. Das zeigt auch eine kürzlich erschienene Studie zum Zusammenhang zwischen Sprache und Nachdenken über Geisteszustände anderer Menschen. Die amerikanischen Psychologen Jennie Pyers und Ann Senghas beobachteten Taubstumme in Nicaragua, die eine eigene Zeichensprache entwickelt hatten. Die erste Generation hatte keine Handzeichen für das Innenleben anderer Menschen und konnte auch entsprechende Tests nicht meistern. Die nächste Generation bildete diese Zeichen jedoch - und hatte prompt keine Probleme mehr, über das Denken anderer zu reflektieren. Die Pointe: Eltern holten ihr Defizit auf, sobald sie sich die neuen Zeichen von ihren Kindern aneigneten.

Wenn die Empathie ausgeknipst wird

Saxe will dieses Neuronetzwerk auch bei einfacheren empathischen Leistungen am Werke sehen, die bisher Spiegelneuronen vorbehalten schienen, zum Beispiel, wenn wir in einem Gesicht Angst oder Ekel lesen. Zwar leugnet die MIT-Forscherin keineswegs, dass diese Gefühle im basalen Emotionszentrum des Beobachters - dem limbischen System - gespiegelt werden. Sie stellt jedoch aufgrund mehrerer Studien in Frage, ob diese Mechanismen genügen, um Emotionen auch gedanklich zuzuschreiben. "Das würde bedeuten, dass Menschen mit geschädigter Amygdala in ihren Mitmenschen keine Angst erkennen - das gelingt ihnen aber häufig dennoch." Saxe will damit die Simulationstheorie nicht völlig ad acta legen, ihr aber bestenfalls eine untergeordnete Rolle zugestehen.

Das sehen einige Kollegen naturgemäß anders. "Bei Emotionen geht es primär um Mitempfinden, nicht um die Zuschreibung von Geisteszuständen", kritisiert etwa der österreichische soziale Neurowissenschaftler Claus Lamm von der Universität Zürich. "Simulationistische Ansätze beschäftigen sich vor allem mit Emotionen und Aktionen, also konkret beobachtbaren Zuständen - Tränen oder Lachen etwa -, während Theory-of-Mind-Ansätze primär das Verstehen gedanklicher, nicht direkt beobachtbarer Zustände behandeln." Im Alltag, sagt Lamm, würden beide Mechanismen aber oft zusammen auftreten.

Das konnte vor kurzem auch der Hirnforscher Kai Vogeley von der Uniklinik Köln bestätigen. In einem Experiment ließ er Probanden im Hirnscanner virtuellen Personen gegenübertreten, die den Blick von ihnen abwandten oder ihnen direkt in die Augen sahen. Zuerst nahmen die Personen nur eine Bewegung des anderen Menschen wahr, die Spiegelneuronen aktivierte. Kam es zu längerem Blickkontakt, begann im Gehirn das neuronale Netzwerk der Theory of Mind zu arbeiten.

"Es gibt ein klares Theoriedefizit"

Deshalb will Vogeley auch beiden Lagern recht geben. Er unterscheidet zwischen bewusstem Nachdenken über andere und präreflexiver Empathie, bei der wir andere unmittelbar verstehen. "Wahrscheinlich helfen Spiegelneuronen, uns zumindest intuitiv und orientierend in andere einzufühlen, eine Art Vorstufe, ehe wir detaillierte Vorstellungen darüber formen, was in einer anderen Person vorgeht."

Dennoch wird sich der Streit zwischen den Simulationisten und Theory-of-Mind-Vertretern wohl so schnell nicht auflösen. Das liegt nicht zuletzt dar an, dass Hirnscanner zwar immer höher auflösende Bilder liefern, aber Forscher über die Interpretation streiten. "Es gibt ein klares Theoriedefizit", gesteht auch Saxe. Mit einfallsreichen Experimenten will sie dieses Manko beheben. So leuchtet Saxe verschiedenste Dimensionen des kognitiven Empathienetzwerkes aus, etwa bei Autisten und Blinden oder im Kontext von Sprache und Moral.

Für die Untersuchung der Moral etwa hat die Hirnforscherin mit ihrer Mitarbeiterin Liane Young einen raffinierten Versuch ersonnen, der das Verstehen von absichtsvollen Handlungen anderer Personen testet. So neigen wir dazu, einem Ehemann zu vergeben, der seiner Frau ungewollt eine tödliche Dosis Gift in den Kaffee gemischt hat. Hingegen verurteilen wir ihn, wenn er Gift verabreichen wollte, ihr aber versehentlich nur eine Zuckerdose reicht. Die moralische Bewertung richtet sich offensichtlich nach der Intention des Mannes.

Doch dieses empathische Urteilsvermögen konnten die Forscherinnen im Labor temporär ausknipsen - und zwar mit transkranieller Stimulation (TMS), bei der eine Magnetspule an den Kopf angelegt wird und ein Impuls die Neuronen durcheinander bringt. Machten sie dies gezielt in der rTPJ, konnten die Versuchspersonen die Absichten des Giftmischers nicht mehr richtig einschätzen und orientierten sich am Ausgang des Versuches. So hatten sie weit weniger Nachsicht für den Mann, der seine Frau zufällig tötete. Hingegen ließen sie im Falle des gescheiterten Mordversuchs häufiger Gnade walten.

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