Ein Lügenexperte im Interview:"Mir entgeht kein Gesichtsausdruck"

Paul Ekman arbeitet als Lügenexperte für das FBI und die CIA. Stimmt es, dass er in Gesichtern lesen kann wie sonst niemand?

Michaela Haas

Wie alle guten Psychotherapeuten erweckt Paul Ekman sofort Vertrauen. Und den Eindruck, dass ihm, diesem aufmerksamen Mann mit der sonoren Stimme, aber auch nicht das winzigste Detail entgeht. Es ist ein relativ kühler Abend in Los Angeles, Ekman hat den ganzen Tag am Set der neuen Fox-Serie "Lie to me" verbracht. Deshalb will er nun im Restaurant in Westwood nahe am Kaminfeuer sitzen - und noch bevor ihm der Kellner den ersten Whisky auf Eis serviert, taut Ekman auf. Also, stimmt es, dass er in Gesichtern lesen kann wie sonst niemand?

Ein Lügenexperte im Interview: Paul Ekman, 73, ist emeritierter Professor für Psychologie an der Universität von Kalifornien in San Francisco, vielfacher Bestsellerautor und einer der weltbesten Experten für nonverbale Kommunikation. Seit mehr als vierzig Jahren erforscht er, wie Gefühle entstehen, wie sie sich äußern und wie man sie in anderen lesen kann. Jeder, der heute in einer US-Botschaft - egal in welchem Land - oder bei der Einreise ein Visum ausgestellt bekommt, wird von einem Menschen befragt, der nach Ekmans Methoden geschult ist. Ekman hat außerdem ein komplexes Codier-System entwickelt, mit dem die Kameras in amerikanischen Flughäfen bestimmte Gesichtsausdrücke identifizieren können.

Paul Ekman, 73, ist emeritierter Professor für Psychologie an der Universität von Kalifornien in San Francisco, vielfacher Bestsellerautor und einer der weltbesten Experten für nonverbale Kommunikation. Seit mehr als vierzig Jahren erforscht er, wie Gefühle entstehen, wie sie sich äußern und wie man sie in anderen lesen kann. Jeder, der heute in einer US-Botschaft - egal in welchem Land - oder bei der Einreise ein Visum ausgestellt bekommt, wird von einem Menschen befragt, der nach Ekmans Methoden geschult ist. Ekman hat außerdem ein komplexes Codier-System entwickelt, mit dem die Kameras in amerikanischen Flughäfen bestimmte Gesichtsausdrücke identifizieren können.

(Foto: Foto: Getty)

SZ: Guten Tag, Herr Professor, wie geht es mir?

Paul Ekman: Gut. Ein wenig müde, aber ansonsten geht es Ihnen prima.

SZ: Danke. Und Ihnen?

Ekman: Bestens, aber ich brauche jetzt erst mal einen Whisky! Ich habe den ganzen Tag in Hollywood verbracht, als würde ich die Horror-Geschichten darüber, was die in Hollywood mit der Wissenschaft anstellen, nicht kennen.

SZ: So schlimm?

Ekman: Nein, es macht mir großen Spaß. Aber die haben natürlich von Wissenschaft wirklich keine Ahnung.

SZ: Dr. Cal Lightman, Hauptfigur in der neuen Fox-Serie "Lie to me", ist der weltbeste menschliche Lügendetektor. Er arbeitet wie Sie für FBI, CIA und Anwaltsfirmen. Basiert die Figur auf Ihnen?

Ekman: Ich habe den Autoren tatsächlich erlaubt, alles vom beruflichen Paul Ekman zu verwenden, aber nichts vom privaten. Dieser Cal Lightman ist ein arroganter Schnösel, ich nicht. Er lügt, ich nicht. Er ist geschieden, ich bin seit über dreißig Jahren glücklich verheiratet.

SZ: Es ist ein wenig beunruhigend, einem Menschen gegenüberzusitzen, dem man nichts vormachen kann.

Ekman: Haben Sie denn etwas zu verbergen? Keine Angst, ich kann keine Gedanken lesen. Ich sehe, wie Sie sich fühlen. Aber was hinter Ihren Gefühlen steckt, das weiß ich natürlich nicht.

SZ: Das lässt einem trotzdem nicht viel Privatsphäre.

Ekman: Mir entgeht kein Gesichtsausdruck, aber das bedeutet nicht, dass ich Sie auszähle. Wenn meine Frau mir mit ihrem Gesichtsausdruck signalisiert, dass sie etwas verbergen will, spreche ich sie nicht darauf an. Nur wenn ich denke, dass es etwas mit mir zu tun hat, frage ich leichthin: 'Alles in Ordnung, Liebling?'

SZ: Warum ist es für Sie so einfach, im Gesicht eines anderen zu lesen?

Ekman: Es sind nur 43 Muskeln, mit denen wir mehr als 10.000 Gesichtsausdrücke erzeugen können, und ich habe alle gesehen. Ich bin bis Papua-Neuguinea und auf alle Kontinente gereist. Es gibt keinen Ausdruck, den ich nicht kenne.

SZ: Mit einem Kollegen haben Sie fast acht Jahre lang damit zugebracht, jeden einzelnen dieser Gesichtsausdrücke anzunehmen, zu fotografieren und zu codieren!

Ekman: Und wenn wir einen Ausdruck wirklich nicht selbst erzeugen konnten, sind wir zu Ärzten nebenan gerannt; die haben uns dann eine Akupunkturnadel an die entsprechende Stelle gesetzt. Manche Ausdrücke sind extrem schwierig. Sehen Sie, wenn Sie zum Beispiel die Mundwinkel so zusammenpressen und den Unterkiefer nach vorne schieben . . .

SZ: Sie meinen . . . so?

Ekman: Uh, Sie sehen sehr, sehr wütend aus, hören Sie auf! Das Überraschendste an unserer Arbeit war die Feststellung, dass manche Gefühle erst entstehen, weil man einen bestimmten Gesichtsausdruck aufsetzt. An Tagen, an denen wir stundenlang wütende oder depressive Ausdrücke übten, mussten wir uns eingestehen, dass es uns miserabel ging. Wenn wir auf unseren Gesichtern Glück und Zufriedenheit simulierten, waren wir anschließend tatsächlich bester Laune.

SZ: Also funktioniert der Trick, sich selber anzulächeln, wenn man miesepetrig ist?

Ekman: Wenn man bestimmte Muskeln im Gesicht aktiviert, ruft man damit die gleichen Veränderungen im Nervensystem hervor wie das entsprechende Gefühl. Schauspieler kennen das. Stanislawski, der Theaterpädagoge, hat immer gesagt: 'Mach' die Geste, das Gefühl folgt nach.'

SZ: Sie haben bei Ihren Forschungen die Mikroausdrücke entdeckt, also flüchtige, unbewusste Gesichtsausdrücke, die einen verraten, auch wenn man sich beherrscht. Wie lange bräuchte ich, um sie von Ihnen zu lernen?

Ekman: Für den Grundkurs? 40 Minuten. Das hat mich selbst überrascht. Am Anfang, als wir Richter, Polizisten und Staatsanwälte getestet haben, waren die im Gesichterlesen keinen Deut besser als normale Menschen, alle haben nur geraten.

Nach einer Stunde Training aber stieg ihre Trefferquote auf 50 oder 60 Prozent. Wir haben heute Virtuosen, die sogenannten Hexenmeister, die kommen auf 96 Prozent. Meistens sind das Menschen, die besonders hoch motiviert sind, weil ihr Überleben von so einer Situation abhängen könnte, zum Beispiel Geheimdienstler.

Auf der nächsten Seite: Wie hoch ist Ekmans eigene Trefferquote?

"Mir entgeht kein Gesichtsausdruck"

SZ: Bei wie viel Prozent liegen Sie?

Ekman: Bei 100. Mir entgeht kein Ausdruck.

SZ: Können Sie nie abschalten?

Wenn Sie es einmal gelernt haben, haben Sie diese Fähigkeit. Lesen Sie Noten?

SZ: Ja.

Ekman: Dann hören Sie Symphonien anders. Genauso ist es mit den Mikroausdrücken. Damit lernt man, die Grundmuster menschlicher Emotionen zu lesen.

SZ: Ihr Mentor Silvan Tomkins hat mal gesagt, das Gesicht sei wie der Penis.

Ekman: Weil es ein Eigenleben hat, das sich zum Teil unserer bewussten Beherrschung entzieht. Jeder von uns wird hin und wieder gefragt: Warum guckst du gerade so oder so? Meist sind unsere Gesichtsausdrücke uns aber gar nicht bewusst. Tomkins konnte nur vom Foto eines gesuchten Verbrechers auf das Verbrechen schließen, das er begangen hatte. Bevor er als Wissenschaftler erfolgreich war, hat er übrigens auf Pferderennen gewettet. Er konnte nur anhand der Aufstellung sagen, welches Pferd gewinnen würde. Er war darin so gut, dass er davon leben konnte.

SZ: Woran erkennen Sie, ob mein Lächeln jetzt gerade ehrlich oder nur höflich ist?

Ekman: Bei einem echten Lächeln bewegt sich nicht nur der Zygomatic Major, der Mundwinkel, sondern auch der Orbicularis oculi, pars orbitalis, also der Muskel um die Augen. Das ist fast unmöglich zu fälschen, es entzieht sich unserer Willenskraft. Also: Ihr Lächeln ist echt.

SZ: Es wäre außerordentlich schwierig, Sie anzulügen. Sie durchschauen alles.

Ekman: Oh, nichts leichter als das. Ich glaube grundsätzlich immer, dass Leute mir die Wahrheit sagen, es sei denn, ich arbeite.

SZ: Woran erkennen Sie, ob jemand lügt? Es gibt ja keine Pinocchio-Nase.

Ekman: Aber Hotspots. Wenn das Gesicht nicht zur Stimme passt, die Stimme nicht zum Inhalt oder der Inhalt nicht zu den Gesten, dann stimmt was nicht. Es ist nicht eine Sache, man muss auf alles achten. Aber Vorsicht, es kann sein, dass jemand nur Angst hat und angespannt ist, weil er verhört wird, nicht unbedingt, weil er ein Verbrechen begangen hat.

SZ: Ist Lügen jemals gerechtfertigt?

Ekman: Natürlich. Ich habe eine Goldene Regel, wann es erlaubt ist zu lügen. Wenn meine Frau und ich von einer Party zurückkommen und meine Frau fragt: ,Gab es Frauen auf der Party, die du attraktiver fandest als mich?' - dann sage ich selbstverständlich nicht: ,Klar, diese Blonde.' Sondern: ,Natürlich nicht, Liebling!' Ein fiktives Beispiel, denn meine Frau ist zu intelligent, um so dumme Fragen zu stellen. Entscheidend ist die Überlegung: Wenn meine Partnerin herausfindet, dass ich sie angelogen habe - würde sie sich verletzt und ausgenutzt fühlen und mir nie wieder vertrauen, oder würde sie verstehen, warum ich das getan habe?

SZ: Damit öffnen Sie der Lüge Tür und Tor.

Ekman: Man muss ehrlich mit sich sein. Ein Wissenschaftler-Kollege von mir findet beispielsweise, dass er, wenn er auf Reisen ist, anstellen kann was er will. Ich frage: ,Weiß deine Frau das?' ,Nein', sagt er, ,aber ich bin mir sicher, sie sieht das genau so.' Damit lügt er sich natürlich in die eigene Tasche.

SZ: Wann haben Sie zuletzt die Unwahrheit gesagt?

Ekman: Seit der Geburt meiner Tochter versuche ich, ohne Lügen durchs Leben zu gehen, aber es ist Arbeit. Harte Arbeit.

SZ: Also? Wann zuletzt?

Ekman: Hm. Es war eine altruistische Lüge, wirklich. Ich musste unlängst drei Tage auf die Ergebnisse einer Biopsie warten. Davon habe ich meiner Frau nichts erzählt, und als sie mich fragte, ob ich mir über etwas Sorgen mache, sagte ich nur: 'Nein, Liebling, alles in Ordnung.' Weil ich dachte: Wenn es bösartig ist, habe ich immer noch genügend Zeit, es ihr zu erzählen. Wenn es nichts ist, macht sie sich unnötig Sorgen.

Als dann die Ergebnisse kamen und ich ihr davon erzählte, musste ich ihr versprechen, so etwas nie wieder geheimzuhalten. Aber sie hat verstanden, dass ich sie nicht hintergehen, sondern beschützen wollte.

Thomas von Aquin hat es so beschrieben: Wenn ein Mörder mit einem Messer in der Hand in Ihr Haus kommt und fragt, wo Ihr Bruder ist, dann sagen Sie nicht, er schläft nebenan. Sondern: Er ist vor einer Stunde abgereist, und zwar in die und die Richtung.

Auf der nächsten Seite: Kann Wahrheit mehr Schaden anrichten als eine Lüge?

"Mir entgeht kein Gesichtsausdruck"

SZ: Sie meinen, Wahrheit kann mehr Schaden anrichten als eine smarte Lüge?

Ekman: Wahrheit kann auf brutale Weise benutzt werden. Höfliche Täuschung halte ich nicht für eine Lüge. Wir wollen nicht wahrheitsgemäß wissen, ob jemand unser Weihnachtsgeschenk mochte. Wir erwarten Schmeicheleien. Meine Frau hat mir das schon vor langer Zeit beigebracht. Wenn sie heute mit einem neuen Kleid nach Hause kommt und es hat den falschen Schnitt und eine schreckliche Farbe, sage ich: 'Umwerfend, Honey!'

Ich nenne das: Die Wahrheit falsch sagen. Man lügt nicht, aber man erweckt einen falschen Eindruck. Beim Pokern zum Beispiel darf man die Wahrheit gar nicht sagen, sonst gewinnt man ja nie. Meiner Tochter dagegen sage ich immer die Wahrheit, weil sie das so möchte und damit auch besser umgehen kann.

SZ: Mir ist brutale Offenheit auch lieber als ein höflicher Eiertanz.

Ekman: Dann müssen Sie sie einfordern.

SZ: Aber in manchen Kulturen ist man nicht fähig, brutal offen zu sein. Denken Sie an die Japaner.

Ekman: Da wird angenommen, dass Sie die unterschwelligen Hinweise verstehen. Mein bester Freund beispielsweise hat sich immer Freundinnen gesucht, die ihn mies behandelten. Bei der vierten sagte er zu mir: ,Die Neue ist echt anders, du musst sie treffen!' Hinterher wollte er von mir wissen, wie ich ehrlich über sie dachte. Ich sagte also: ,Die ist die Schlimmste, die du je hattest!' Er hat daraufhin ein Jahr lang nicht mit mir gesprochen, bis er sich von ihr getrennt hatte. Aber als guter Freund hast du nun einmal die Pflicht, die Wahrheit zu sagen.

SZ: Haben Sie Ihre Kinder häufig beim Lügen ertappt?

Ekman: Bis heute glaubt meine Tochter, sie sei mit einigen Lügen durchgekommen, bloß weil wir sie ihr nicht auf den Kopf zugesagt haben. Interessanterweise hat keines meiner Kinder je herausbekommen, wann wir sie durchschauten. Dabei war es eigentlich einfach: Wenn meine Frau die Kinder fragte, wo sie am Vorabend gewesen waren und ihre Augenbrauen dabei nach oben gezogen waren, dann hieß das: Sie wusste es wirklich nicht. Wenn ihre Augenbrauen beim Fragen unten blieben, hieß das, sie wusste eh Bescheid.

SZ: Sie haben zunächst Psychotherapie studiert. Gab es dafür einen Grund?

Ekman: Als ich vierzehn Jahre alt war, hat sich meine Mutter umgebracht. Im Rückblick denke ich, sie war bipolar. Sie bat mich damals um Hilfe, ich konnte ihr nicht helfen - und fühlte mich dafür enorm schuldig. Ich wollte lernen, wie man Menschen mit solchen Problemen helfen kann. Ich dachte, mit Psychotherapie könne man die Welt verändern.

SZ: Und?

Ekman: Dann dachte ich eine Weile, mit Forschung könne man die Welt verändern.

SZ: Eine der erstaunlichsten Facetten Ihres Alltags ist, dass Sie mit so vielen verschiedenen Menschen zusammenarbeiten, vom Dalai Lama bis zum FBI, von der Zeichentrick-Abteilung bei Disney bis zum Verteidigungsministerium ...

Ekman:. . . oder mit plastischen Chirurgen, die wissen wollen, wie sie Haut straffen, ohne Muskeln zu beeinträchtigen, mit Maskenmachern, Schauspielern, Richtern - das Gesicht hat allen etwas zu sagen.

SZ: Sie haben an der Programmierung der Videokameras mitgearbeitet, die auf amerikanischen Flughäfen Terroristen an ihren Gesichtszügen erkennen sollen. Ein sehr umstrittenes Projekt.

Ekman: Ich glaube, dass selbst die besten Maschinen niemals so gut werden wie sehr smarte, gut trainierte Leute. Aber wir sind ein Technologie-Land. Das unausgesprochene Motto der Amerikaner lautet: Bau mir eine Maschine, sonst bringt das nichts. Das Motto der Israelis lautet: Holt uns die besten Leute, wir geben ihnen das beste Training. Derzeit arbeite ich übrigens daran, wie man erkennen kann, ob jemand kurz davor ist, einen Mord zu begehen.

SZ: Ist das, was sich im Gesicht eines Mörders abspielt, nicht völlig auf seine Person bezogen?

Ekman: Sieht nicht so aus. Ich habe Polizisten in fünf Ländern befragt, darunter zwei nicht-westliche, und die Ergebnisse sind gleich. Seit ich zwölf bin, fotografiere ich, und ich habe gelernt, dass uns unsere Gesichter fast alles erzählen.

Auf der nächsten Seite: Welcher Politiker ist der beste Lügner?

"Mir entgeht kein Gesichtsausdruck"

SZ: Welcher Politiker ist der beste Lügner?

Ekman: Politiker sind miserable Lügner. Carter, Reagan, Nixon, die waren alle schlechte Lügner. Der letzte wirklich gute Lügner, das war John F. Kennedy. Wie er in der Kuba-Debatte Nixon dafür angriff, dass er zu weich vorging - wohl wissend, dass Nixon sich nicht wehren konnte, weil er nicht zugeben durfte, dass er gerade den Einmarsch auf Kuba vorbereitete - das war genial!

Im Krieg ist Lügen an der Tagesordnung. Niemand hat je Eisenhower dafür kritisiert, dass er Hitler nicht die Wahrheit darüber gesagt hatte, wo die Invasion beginnen würde. Hitler selber war ein Superlügner, Chamberlain ist ihm bekanntlich auf den Leim gegangen.

SZ: Haben Sie jemals Ihren Vorsatz gebrochen, keinem aktiven Politiker zu helfen?

Ekman: Als ich Bill Clinton das erste Mal im Fernsehen sah, fiel mir sein Gesichtsausdruck auf. Ich nenne es den 'Lausbub-der-mit-der-Hand-in-der-Keksdose-erwischt-wird-aber-Mami-liebt-mich-trotzdem-Look'. Damals habe ich zum ersten und letzten Mal meine eigene Regel gebrochen; nichts zu sagen, wenn jemand im Wahlkampf steht oder ein Amt innehat.

Ich kannte einen aus Clintons Team und sagte ihm: 'Hör mal, euer Kandidat hat einen Gesichtsausdruck, der verrät, dass er die Regeln bricht. Ich könnte ihm das abgewöhnen.' Aber Clintons Team wollte nicht riskieren, dass er mit einem Lügenexperten gesehen wird. Clinton musste erwischt werden, so wie es ihm ins Gesicht geschrieben stand.

SZ: Haben Sie manchmal Angst, dass Ihr enormes Wissen von den Falschen missbraucht wird?

Ekman: Das Trainingsprogramm auf meiner Website kann man nicht mit einer Kreditkarte aus einem nicht-demokratischen Land kaufen. Ich bekomme deswegen ständig Beschwerden aus dem Iran oder aus Russland. Aber ich bin nun einmal nicht daran interessiert, Diktaturen zu helfen. Anfragen aus China habe ich auch immer abgelehnt, das Regime ist zu brutal. Aber vielleicht ändere ich das, der Dalai Lama will, dass ich nach China gehe.

Auf der nächsten Seite: Wie der Lügenexperte den Dalai Lama kennengelernt hat.

"Mir entgeht kein Gesichtsausdruck"

SZ: Wie haben Sie ihn kennengelernt?

Ekman: Meine Tochter Eve hat mit 16 Jahren ein paar Monate als Freiwillige in einem tibetischen Flüchtlingsheim in Nepal verbracht. Als sie nach Hause kam, hat sie einen Free Tibet-Verein gegründet.

Ich wusste, dass sich der Dalai Lama sehr für Wissenschaft interessiert, also bewarb ich mich vor acht Jahren um ein Gespräch mit ihm. Bei solchen Gesprächen darf man einen stillen Beobachter mitbringen. Ich habe meine Tochter mitgenommen und sie ihm als meinen spirituellen Führer vorgestellt, und so durften wir zusammen fünf Tage mit ihm verbringen.

SZ: Wie ist Ihr Verhältnis zu ihm?

Ekman: Er ist für mich wie der Bruder, den ich nie hatte, und er macht sich darüber lustig, dass ich das nicht wissenschaftlich erklären kann. D.L. glaubt an Karma, und er glaubt tatsächlich, dass wir in einem unserer Leben Brüder waren.

SZ: D.L.?

So nenne ich ihn, denn ich weiß nicht recht, wie ich ihn anreden soll. Er sagt 'Paul' zu mir, aber ihn mit seinem Vornamen, Tenzin, anzureden, ist unpassend.

SZ: Wie wär's mit ,Heiligkeit'?

Ekman: Ich sehe niemanden als heilig an, deshalb kann ich auch niemanden so anreden. Dieser Titel kommt vom Papst, und der Dalai Lama ist das Gegenteil vom Papst. Der Dalai Lama ist ein Debattierer und Logiker, beim Papst basiert alles auf Dogma und Glauben. Also kann ich den Dalai Lama nicht mit dem Namen des Papstes anreden. Ich sage: Sir. Oder D.L.

SZ: Der Dalai Lama hat Ihnen 50.000 Dollar gegeben, damit Sie herausfinden, wie Lehrer und Manager besser mit ihren Emotionen fertig werden. Wieso?

Ekman: Das hat mich selbst vom Stuhl gehauen. Wir haben ein Programm namens ,Emotionale Balance kultivieren' entworfen und darin das Beste von ihm und das Beste von mir eingebaut: Meditation, Mitgefühl und die wissenschaftlichen Methoden meines Instituts. Ich habe D.L. gefragt, wie viele Stunden es braucht, um einen Menschen zu verändern. Er sagte: vierzig.

Und so war es. Nach vierzig Stunden stellten wir einen deutlichen Rückgang von Angst, Stress und Anspannung fest. Das Schwierigste, was wir Leuten beibringen, ist, sich ihrer eigenen Impulse und Emotionen bewusst zu werden, bevor sie in Rage geraten.

SZ: Sie wirken hingegen sehr ausgeglichen, trotz Ihres Pensums.

Ekman: Dabei war ich von Geburt an ein schwieriger Mensch. Ich bin von der High School geflogen, weil ich den Lehrern immer widersprochen habe.

SZ: Sie sind Jude, tragen aber die tibetische Flagge am Revers. Sind Sie konvertiert?

Ekman: Ich habe es nur ein Jahr lang ernsthaft mit dem jüdischen Glauben versucht, das war, nachdem meine Mutter gestorben war. Es hat für mich nicht funktioniert. Aber ich bin auch kein Buddhist, ich bin Wissenschaftler. Die beiden härtesten Dinge, die ich je getan habe, waren nach 35 Jahren das Rauchen aufzugeben und in ein 10-Tage-Meditations-Seminar zu gehen.

SZ: Also hat D.L. Sie doch tief beeindruckt?

Ekman: Auf halber Strecke, in der ersten Wissenschaftskonferenz, hat er meine Hand gehalten. Ich hatte plötzlich ein ganz ungewöhnliches Gefühl. Das Unglaubliche war, dass ich die nächsten sieben Monate lang keine Wut gespürt habe. Bis dahin hatte ich mindestens ein bis zweimal die Woche mit Wut zu tun.

SZ: Der weltbeste Experte für Emotionen braucht also den Dalai Lama, um sich von seiner Wut zu befreien?

Ekman: Nach sieben Monaten kam die Wut zurück, aber nie mehr so intensiv wie vorher und nie mehr so gewaltig, dass ich etwas tue, was ich hinterher bereue.

SZ: Was hat Sie zuvor so wütend gemacht?

Ekman: Ich glaube, es waren die Nachwirkungen des Hasses auf meinen Vater. Ich habe mir oft gewünscht, ich könnte ihn umbringen. Ich habe ihn für den Tod meiner Mutter verantwortlich gemacht. Als ich den Dalai Lama traf, war mein Vater schon 33 Jahre tot, aber mein Hass auf ihn hatte mich nie verlassen. Nach dem Treffen mit D.L. habe ich aufgehört, ihn zu hassen, ein Jahr später hatte ich ihm vergeben.

SZ: Wie erklären Sie sich das?

Ekman: Als Wissenschaftler habe ich natürlich gleich Fälle von Menschen gesammelt und erforscht, denen Ähnliches mit ihm passiert war. Ich interviewte sie und legte D.L. die Mappe vor, aber ich konnte ihn einfach nicht dazu bringen, darüber zu sprechen! Er lachte nur. Und sagte: 'Paul, du bist zu westlich!'

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