Süddeutsche Zeitung

Ein Anthropologe in Hoyerswerda:"Leben in einer schrumpfenden Stadt"

Felix Ringel studiert in Cambridge Anthropologie. Für seine Doktorarbeit betreibt er seit einem Jahr Feldforschungen in Hoyerswerda.

Martin Zips

Eigentlich studiert Felix Ringel, 27, gerade in Cambridge Anthropologie. Für seine Doktorarbeit jedoch hat sich der in Pankow geborene Student nun einen ganz besonderen Ort ausgesucht: Hoyerswerda. Hier betreibt Ringel seit einem Jahr Feldforschungen am lebenden Objekt.

SZ: Herr Ringel, Ihre Kommilitonen aus Cambridge machen derzeit Feldforschungen bei den Warao-Indianern in Venezuela, bei der Nu-Minderheit in China und in einem Saharaui-Flüchtlingslager in Algerien. Wie kamen Sie ausgerechnet auf Hoyerswerda?

Ringel: Wissenschaftler, die sich für postsozialistische Veränderungen interessieren, gehen sonst eher nach Rumänien oder Sibirien. Ich aber fand Ostdeutschland spannend. Schließlich bin ich selber hier geboren. Hoyerswerda kannte ich zuvor nur aus Erzählungen.

Ich fragte mich: Wie lebt man in einer schrumpfenden Stadt? Hoyerswerda wird ja immer älter. Und ein Großteil der Jugend geht weg. In der Neustadt lebten früher mal 70.000 Menschen, jetzt sind es noch 26.000. Wie gestaltet man da Leben und Zukunft?

SZ: Wie sieht Ihre Feldforschung denn genau aus?

Ringel: 16 Monate lang ziehe ich von Familie zu Familie und bleibe durchschnittlich drei Monate. Da kriegt man schon etwas mit. Ich besuche auch öffentliche Veranstaltungen, Stadtratssitzungen und Vereinsversammlungen. Und ich rede mit den Menschen über ihr Leben und ihre Wünsche. Ende April fliege ich wieder zurück nach Cambridge.

SZ: Und wenn Sie ins Kino gehen oder ins Schwimmbad, haben Sie immer ein Aufnahmegerät dabei, welches Sie wildfremden Menschen unter die Nase halten?

Ringel: Meist schreibe ich Tagebuch, Aufnahmen mache ich nur bei Interviews. Manchmal aber fühle ich mich schon ein bisschen wie ein Stasimann.

"Fremdenfeindlichkeit gibt es natürlich auch"

SZ: Bei Hoyerswerda denkt man ja zunächst an Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus. Ist das ein Vorurteil?

Ringel: Das gibt es hier natürlich auch. Anfangs habe ich mir überlegt, auch mit Neonazis in Kontakt zu treten. Einige von denen stehen hier ja ständig vor dem Einkaufszentrum rum. Aber da ich mich in meiner Doktorarbeit eher mit der Lösung von Problemen in einer Stadt wie Hoyerswerda befasse, sind Neonazis nur ein Aspekt von vielen.

Sie sind insofern interessant für mich, da sie für viele junge, kluge Leute ein Grund sind, schnellstmöglich von hier wegzuziehen. Und das ist das Tragische. Leider haben die Ausschreitungen von 1991 das Bild von Hoyerswerda bis heute weltweit geprägt. Wer von hier kommt, wird oft darauf angesprochen.

SZ: Bei was für Leuten haben Sie denn bisher gewohnt?

Ringel: Erst wohnte ich bei Lehrern, dann bei Verwaltungsangestellten, dann bei einem Pendler, schließlich im Abrissbezirk. Derzeit wohne ich bei einem Elektrosteiger aus dem Tagebau Welzow-Süd und einer SAP-Beraterin.

Die Leute geben mir immer ein Bett, und dafür lade ich die auch mal zum Essen ein oder bringe ihnen was vom Bäcker mit. Und ich schreibe wöchentliche Kolumnen im Hoyerswerdaer Tageblatt.

Letztens habe ich dort über Senioren geschrieben, und wie toll es doch ist, dass es in Hoyerswerda eine so aktive, wissbegierige Seniorengemeinde gibt. Allein für meinen Optimismus sind mir die Leute hier sehr dankbar. Schließlich sind sie es seit Jahren gewohnt, immer nur eins auf den Deckel zu bekommen.

SZ: Hat Ihnen Ihr russischer Doktorvater auch die Anweisung gegeben, sich vor Ort ein- bis zweimal regionaltypisch zu verlieben? Das könnte doch auch spannend sein, für so eine anthropologische Doktorarbeit?

Ringel: Traditionell ist der Anthropologe eher asexuell. In den Gruppen oder Stämmen, in die er eindringt, gibt es ja meist vorgefertigte Heiratsmuster. Wenn man sich da als Anthropologe reinzwängt, stört man die Verhaltensmuster. Außerdem fehlt hier in Hoyerswerda ja genau meine Altersschicht zum Verlieben.

27-Jährige, die noch dazu vielleicht studiert haben, gibt es hier so gut wie nicht. Meine Bekannten sind entweder unter 20 oder zwischen 30 und 80 Jahren alt. Das genau ist ja die Tragik dieser Stadt. Als Wissenschaftler kann ich diese Tragik aufzeigen und die Menschen miteinander ins Gespräch bringen. Vorgefertigte Lösungen habe ich nicht zu bieten.

SZ: Und wenn Sie mit Ihren Studien fertig sind, dann packen Sie einfach wieder Ihre Koffer und sagen adieu?

Ringel: Hoyerswerda wird mich ein Leben lang nicht loslassen. Es wird mein privates und berufliches Leben weiter bestimmen. Die Überalterung, Abwanderung und die Frage ,,Wie gestaltet man städtisches Leben?'' - das sind doch alles unglaublich spannende Themen.

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Quelle:
SZ vom 14.02.2009/mcs
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