Ehec stellt Forscher vor Rätsel:Sicher ist nur die Angst

Die einen sprechen von einer "super-toxischen Mikrobe", die anderen zeigen sich genervt von "reiner Sensationsmache": Der aggressive Ehec-Erreger entzweit die Wissenschaft. Die Zahl der Erkrankten steigt weiter an, in Norddeutschland werden die Blutvorräte knapp. Nun soll eine Datenbank bei der Behandlung der Infizierten helfen.

Christina Berndt und Katrin Blawat

An diesem Freitag reichte es Alfredo Caprioli. Zu viele aufgeregte Menschen hatten beim Leiter des EU-Referenzlabors für Ehec in Rom angerufen: Hatten doch im entfernten Hamburg deutsche und chinesische Wissenschaftler verkündet, bei dem derzeit in Norddeutschland grassierenden Ehec-Erreger handele es sich um eine "vollkommen neue und super-toxische" Mikrobe. Was, wollten die Anrufer von Caprioli wissen, bedeutete das? Gehen in Norddeutschland tatsächlich hochgradig gefährliche und nie zuvor gesehene Keime um?

Genom des EHEC-Erregers entziffert

Ein Auszug des genetischen Codes (Genom) des nun identifizierten Ehec-Erregers O104 - ob er die Forscher voranbringt, ist ungewiss.

(Foto: dpa)

Wütend schrieb Caprioli deshalb nun eine E-Mail an die zuständigen europäischen Stellen, die auch die SZ erreichte. Die Meldung aus Hamburg habe unnötigerweise "eine Kaskade des Alarms" ausgelöst. "Der Keim kommt nicht vom Mars, und er wird auch nicht die Weltbevölkerung ausmerzen", wetterte Caprioli. "Wir kennen diese Organismen sehr gut."

Längst sei bekannt, dass es sich beim Erreger HUSEC41 um ein Mischwesen aus verschiedenen E.-coli-Stämmen handelt, wie sie im Bauch von Kühen entstehen. HUSEC41 war schon vor zehn Jahren so eine Chimäre, als in Köln zwei Mädchen an dem Keim erkrankten. Es gebe nur geringe Veränderungen, etwa eine erweiterte Widerstandsfähigkeit gegen Antibiotika. Darauf hätten internationale Experten wie Helge Karch aus Münster bereits am Montag aufmerksam gemacht. Die Verweise "vollkommen neu" und "super-toxisch" seien "reine Sensationsmache", sagte Caprioli der SZ.

Eher amüsiert betrachtet derweil der Däne Flemming Scheutz, Leiter des WHO-Referenzzentrums für Ehec in Kopenhagen, die Nachrichten aus Hamburg. "Jeder will eben seinen Platz in der Geschichte haben", sagte er der SZ. "Deshalb sagen sie, der Erreger sei neu."

Weil sich Ehec-Bakterien ständig verändern, seien sie immer etwas anders als zuvor. "Exakt so wie jetzt in Norddeutschland hat man diesen Stamm deshalb tatsächlich noch nie gesehen. Das bedeutet aber nicht, dass er neu ist. Sonst könnte man auch bei jedem Neugeborenen sagen: So ein Wesen hat es noch nie gegeben."

Neue Datenbank soll Erfolge bringen

Die genetischen Charakteristika des aktuellen Keims "waren nicht so detailliert bekannt", verteidigt sich der Bakteriologe Holger Rohde vom Uni-Klinikum Hamburg-Eppendorf, der am Donnerstag die erste fast vollständige Sequenz des Erregers präsentiert hatte. Die chinesische Firma Beijing Genomic Institute habe sich unentgeltlich bereit erklärt, die Bakterien eines Hamburger Patienten zu sequenzieren.

Dass Forscher derzeit so gut wie möglich zusammenarbeiten, erscheint angesichts der Krise mehr als angemessen. Seit Anfang Mai hätten sich 1213 Menschen mit Ehec infiziert, meldete das Robert-Koch-Institut (RKI) am Freitag. Bundesweit werden inzwischen 19 Todesfälle mit Ehec in Verbindung gebracht. 520 der Patienten litten derzeit am Hämolytisch-urämischen-Syndrom (HUS). Die meisten Neuinfektionen an einem Tag - 104 - verzeichnete das Institut am 22. Mai. Seitdem werden zwar weniger Fälle pro Tag gemeldet. Dies dürfe aber nicht als Rückgang der Erkrankungszahlen gewertet werden, so das RKI. In Norddeutschland werden inzwischen die Blutvorräte knapp; bundesweit gebe es aber noch keinen Mangel, hieß es weiter.

Um einen bundesweiten Überblick über die Behandlungserfolge zu erhalten, haben sich 15 Krankenhäuser auf eine gemeinsame Datenbank geeinigt. Sie soll alle HUS-Patienten erfassen sowie deren Behandlungsverläufe. Das Register soll auch helfen, die Wirksamkeit der noch nahezu unerforschten Therapie mit Antikörpern einzuschätzen, die Ärzte bislang bei einigen Patienten angewendet haben. Nur bei Erkrankten, die bereits schwere Komplikationen entwickelt haben, könne man auch eine Therapie mit bestimmten Antibiotika probieren, sagt Winfried Kern von der Universität Freiburg und Vorstandsmitglied der deutschen Gesellschaft für Infektiologie. Erfahrungswerte, wie der derzeit grassierende Keim darauf reagiert, gibt es allerdings noch keine.

Die derzeit in Norddeutschland grassierenden Ehec-Bakterien können sich besonders gut an Oberflächen heften. Womöglich kleben die norddeutschen Keime deshalb am Gemüse. Auch bilden sie zusammen mit Algen und Pilzen Biofilme und können so lange außerhalb von Mensch und Tier in der Umwelt überdauern. Und schließlich helfen ihnen bestimmte Gene, im Darm von Menschen hängen zu bleiben - vor allem bei Erwachsenen. "Das könnte erklären, weshalb HUSEC41 anders als die meisten bekannten Ehec-Erreger vor allem Erwachsene und weniger Kinder krank macht", sagt Flemming Scheutz. Helge Karch hält es für möglich, dass Tiere bei der aktuellen Epidemie keine Rolle spielen, sondern der Erreger aus dem Darm von Menschen oder über fäkalienverseuchtes Wasser auf die Felder gelangt ist.

Dennoch gilt weiterhin die Empfehlung, Gurken, Tomaten und Blattsalate zu meiden. Kanzlerin Angela Merkel habe in einem Telefongespräch mit Spaniens Ministerpräsident Jose Luis Rodriguez Zapatero die deutschen Behörden verteidigt, wie Regierungssprecher Steffen Seibert mitteilte. Die Behörden seien verpflichtet gewesen, die Untersuchungsergebnisse an das europäische Schnellwarnsystem zu übermitteln. Nach Angaben der spanischen Regierung ziehe Merkel in Betracht, auf eine Entschädigung für spanische Bauern zu dringen. Ursprünglich waren spanische Gurken als Quelle der Keime verdächtigt worden. Dies stellte sich später als falsch heraus.

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