Nach Jahren erfolgloser Suche:Dünnschnabel-Brachvögel gibt es nicht mehr

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Keine Hoffnung mehr: Dünnschnabel-Brachvögel gibt es nur noch leblos im Museum. (Foto: National History Museum London)

Zum ersten Mal seit fast einem Jahrhundert ist wieder eine Vogelart in Europa verschwunden. Was damit verloren geht – und wann Forscher eine Art für ausgestorben erklären.

Von Thomas Krumenacker

Am Ende halfen weder Suchexpeditionen noch Aufrufe an Vogelbeobachter: Nachdem es trotz jahrzehntelanger Bemühungen nicht gelungen war, ein lebendes Exemplar des Dünnschnabel-Brachvogels zu finden, haben Wissenschaftler den einst in Feuchtgebieten von Zentralasien bis zum Mittelmeer anzutreffenden Watvogel nun für ausgestorben erklärt. Ein Team aus Spezialisten verschiedener Vogelschutzorganisationen und des britischen Naturkundemuseums kommt in einer am Montag im Fachjournal Ibis veröffentlichten Studie zu dem Ergebnis, dass die Vogelart mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht mehr existiert.

Das Artensterben hat damit ein weiteres Opfer. Der Dünnschnabel-Brachvogel geht als 165. Vogelart in die Geschichte ein, die durch menschlichen Einfluss für immer vom Angesicht der Erde verschwunden ist. In Europa ist es das dritte Mal, dass ein Vogel für ausgestorben erklärt wird.

Um die Aussterbewahrscheinlichkeit zu berechnen, fütterten die Expertinnen und Experten ein statistisches Modell mit allen verfügbaren Informationen über die Vogelart. Darunter waren alle bisherigen Sichtungen, die für die Suche nach ihr unternommenen Anstrengungen und die potenziellen Bedrohungen. Die Modellierung ergab, dass es mit einer Wahrscheinlichkeit von 96 Prozent kein lebendes Exemplar des Dünnschnabel-Brachvogels mehr gibt. Nach den Richtlinien der für die Aufstellung der Roten Listen zuständigen Internationalen Naturschutzunion IUCN gilt der Dünnschnabel-Brachvogel damit als verschwunden.

Zuletzt gesichtet wurde ein Exemplar 1995 in Marokko

Der Ausstellung dieses wissenschaftlichen Totenscheins vorangegangen waren jahrelange Versuche, doch noch lebende Dünnschnabel-Brachvögel aufzuspüren. Das letzte Mal sicher gesehen wurde ein Exemplar 1995 im marokkanischen Feuchtgebiet Merja Zerga an der Atlantikküste. Die Sichtung in einem traditionellen Überwinterungsgebiet brachte neuen Schwung in die Suche nach den Vögeln. In den Folgejahren unternahmen Wissenschaftler wochenlange Expeditionen in die entlegensten Teile der sibirischen Tundra, um mögliche Brutgebiete aufzuspüren. Hobby-Ornithologen wurden aufgerufen, ihren Urlaub entlang der Zugroute am Mittelmeer und in den nordafrikanischen Überwinterungsgebieten zu verbringen und dort Ausschau zu halten. Um den Abschuss der letzten Angehörigen der Art durch Jäger im Mittelmeerraum zu verhindern, druckten Vogelschützer Hunderte Poster und verteilten sie an Jäger. Auf den Postern sind die Merkmale dargestellt, anhand derer Dünnschnabel-Brachvögel von ähnlichen Watvögeln wie dem Großen Brachvogel oder dem Regenbrachvogel unterschieden werden können.

Am Sitz des britischen Vogelschutzverbandes RSPB wurde eine Koordinierungsstelle eingerichtet, bei der alle Fäden zusammenliefen: Wurde irgendwo zwischen Sibirien, Sizilien und der marokkanischen Küste ein Vogel gemeldet, bei dem es sich um einen Dünnschnabel-Brachvogel hätte handeln können, machten sich Expertinnen und Experten sofort daran, Fotos zu sichten und lokale Kollegen zu alarmieren. Für den Fall, dass sich ein Verdacht erhärten sollte, stand ein europaweites Team aus Fachleuten bereit, um den Vogel zu fotografieren, zu fangen und mit einem Sender auszustatten. So erhofften sich die Brachvogel-Schützer, von den Vögeln selbst auf die Spur bisher nicht entdeckter Populationen geführt zu werden, die dann mit gezielten Schutzmaßnahmen zu Keimzellen für eine überlebensfähige Population aufgebaut werden sollten. Auch der Autor dieses Artikels stand auf Abruf bereit, um das Überleben des seltenen Vogels fotografisch zu dokumentieren. Doch der Anruf zum Aufbruch erreichte ihn so wenig wie die Experten für Vogelfang, Identifizierung und Besenderung.

In ihrer Analyse kommen die Forscher nun zu dem Ergebnis, dass der in Marokko gesichtete Dünnschnabel-Brachvogel wahrscheinlich einer der letzten Angehörigen seiner Art war. Das statistische Modell weist das Jahr dieser Sichtung als wahrscheinliches Aussterbejahr für die gesamte Art aus.

Den Ausschlag gegeben haben wohl unter anderem die Entwässerung von Hochmooren – und die Jagd

Der Dünnschnabel-Brachvogel war für sein Überleben auf das Vorhandensein von Feuchtgebieten angewiesen. Diese Lebensräume sind europaweit besonders von der Zerstörung durch den Menschen und den Klimawandel bedroht – und mit ihnen ihre Bewohner. Schon heute erreichen viele Feuchtgebiete entlang des Vogelzugkorridors von Europa und Afrika nicht mehr ausreichend hohe Wasserstände, um den Tieren genügend Nahrung zum Auftanken ihrer Kraftreserven zu bieten. Studien erwarten, dass innerhalb der nächsten 20 Jahre mehr als 80 Prozent der für den Vogelzug besonders wichtigen Feuchtgebiete im Nahen Osten und Nordafrika so stark austrocknen, dass sie ihre Funktion als Tankstellen auf dem Vogelzug nicht mehr erfüllen können.

Welcher Faktor letztlich dem Dünnschnabel-Brachvogel zum Verhängnis wurde, ist nicht vollständig geklärt. Vieles deutet aber auf einen Ursachen-Mix hin. Entlang seines Zugweges von Zentralasien über den Balkan und Südeuropa bis nach Nordafrika wird Vögeln von Jägern legal und illegal massiv nachgestellt. Die Entwässerung seiner Hochmoor-Brutgebiete für die Landwirtschaft dürfte ein weiterer Faktor sein, ebenso wie der Verlust von Küstenfeuchtgebieten entlang von Mittelmeer und Atlantik, die als Winterfutterplätze dienten.

Der Dünnschnabel-Brachvogel ist nach dem vor 180 Jahren ausgerotteten Riesenalk und dem in den 1940er-Jahren ausgestorbenen Kanaren-Austernfischer die dritte europäische Vogelart, die in der Neuzeit aufgrund menschlicher Einflüsse ausgestorben ist. Erst kürzlich gab der Vogelschutzdachverband Birdlife International bekannt, dass 16 weitere Watvogelarten auf der Roten Liste der bedrohten Arten heraufgestuft werden mussten. Darunter finden sich bisher als noch häufig eingeschätzte Arten wie Kiebitzregenpfeifer, Alpenstrandläufer und Sichelstrandläufer. Alex Berryman, bei Birdlife für die Rote Liste zuständiger Experte und Mitautor der Studie, mahnt: „Die erschütternde Nachricht vom Verlust des Dünnschnabel-Brachvogels ist eine Warnung, dass kein Vogel vor dem Aussterben sicher ist.“

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