Drogenanalyse:Koks im Kanal

Drogenanalyse: Christoph Ort (links) und seine Kollegin nehmen die Proben am liebsten an normalen Tagen im Frühjahr. Wenn keine Schulferien und Feste anstehen.

Christoph Ort (links) und seine Kollegin nehmen die Proben am liebsten an normalen Tagen im Frühjahr. Wenn keine Schulferien und Feste anstehen.

(Foto: Eawag)

Chemnitz ist Europas Crystal-Meth-Hauptstadt, bei Kokain liegt Barcelona vorne. Woher man das weiß? Forscher untersuchen jedes Jahr das Abwasser der Großstädte.

Reportage von Max Ferstl

Die Brühe, die selbst gut behütete Geheimnisse lüftet, ist braun und riecht nach verdorbenem Fleisch und Dixi-Klo. Gemächlich plätschert sie sich durch die Röhre aus Aluminium. Silbernes Kaugummipapier blitzt zwischen dem Braun, Zigarettenstummel treiben wie Konfetti vorbei. Im Filter, der das Gröbste herausfischt, hat sich ein Kondom verfangen.

"Frisches Abwasser", sagt Christoph Ort und klingt ein bisschen stolz. Während sich andere Wissenschaftler oftmals mit künstlichem Abwasser begnügen müssen - das nach Orts Ansicht überhaupt nichts taugt -, bekommt das Wasserforschungsinstitut Eawag in Zürich das Original direkt ins Haus. Im Abfluss einer Stadt kann er wie in einem Buch lesen. Es erzählt ihm Geschichten über die Bewohner. Auch solche, die der Einzelne vielleicht lieber für sich behalten würde.

Das Abwasser in Zürich verrät zum Beispiel, welche Droge die Züricher am liebsten nehmen: Kokain. Wann sie das Zeug bevorzugt konsumieren: am Wochenende. Und wie sie damit im europäischen Vergleich liegen: weit vorn, knapp hinter Spitzenreiter Barcelona.

Seit acht Jahren suchen Ort und seine Kollegen im Abwasser europäischer Städte nach Drogen. Angefangen haben sie mit 19 Städten und 21 Kläranlagen, bei denen sie Proben nahmen. Anfangs wurden sie dafür noch belächelt. Doch dann fand sich tatsächlich etwas, die Wissenschaftler präsentierten valide Daten. Ihre Methode hat sich längst etabliert. Immer mehr Städte machen mit, 66 waren es allein im vergangenen Jahr. Über 36 Millionen Menschen in 23 Ländern wurden insgesamt erfasst - von Reykjavík bis Athen, von Lissabon bis Vilnius. Nie zuvor war das Wissen über den Drogenkonsum in Europa umfangreicher als heute.

Das Prinzip ist simpel. Es beruht darauf, dass jeder Mensch auf die Toilette muss. Wer Drogen genommen hat, scheidet die Rückstände dort wieder aus. Sie sammeln sich in der Kanalisation zusammen mit Abfall, Gummiabrieb von Reifen und Ratten. Die Mengen der Substanzen, die von Drogen herrühren, sind winzig. Nimmt man eine Probe, ist es ungefähr so, als müsste man einen Zuckerwürfel im Bodensee finden. Doch sie sind da, einzigartig und unverfälscht. Chemiker können sie herausfiltern und bekommen anhand der Abbauprodukte einen Eindruck, wie viel Kokain, Methamphetamin und Ecstasy in einer Stadt genommen wird.

Natürlich gibt es auch andere Methoden, um das Konsumverhalten zu ermitteln: Man kann die Leute befragen, Statistiken von Krankenhäusern auswerten, Todesfälle in die Schätzungen miteinbeziehen. Klassische Umfragen hängen allerdings zum einen davon ab, dass der Befragte ehrlich antwortet - was bei illegalen Drogen zumindest als fragwürdig gelten dürfte. Auch wissen viele Junkies gar nicht so genau, was sie eigentlich nehmen, wie stark ihr Stoff gestreckt ist. Zum anderen sind die Forscher sehr darauf angewiesen, dass die Leute ihnen ihre Fragen überhaupt beantworten wollen. Von 100 Befragten machen in Deutschland nur etwa 60 Prozent mit. So oder so, das Ergebnis bleibt nur eine Annäherung. Der Abwasseranalyse kann sich hingegen keiner entziehen. Sie erfasst alle, ohne Ausnahme, vollkommen anonym und ermittelt den tatsächlich genommenen Stoff. "Das Abwasser lügt nicht", sagt Christoph Ort. Für ihn ist es wie ein Fingerabdruck der ganzen Stadt.

Wie Dortmund will keine Stadt enden. Zeitungen küren sie regelmäßig zur Koks-Metropole

Nicht alle Städte sind von der Vorstellung angetan, ihr Innenleben für jeden sichtbar zu machen. Manche wollen, wenn überhaupt, nur anonym mitmachen. Vermutlich fürchten sie um ihren guten Ruf. Ganz unbegründet ist das nicht, schließlich küren Zeitungen Dortmund regelmäßig zur "deutschen Koks-Hauptstadt". Dort wurden zuletzt mehr Rückstände des Kokain-Abbauprodukts Benzoylecgonin gemessen (täglich 461 Milligramm pro 1000 Einwohner) als in der Bankenmetropole Frankfurt (428) und sogar deutlich mehr als in der Partyhauptstadt Berlin (290) oder im reichen München (150).

Ob es an der Nähe zu den großen Umschlagplätzen in den Niederlanden liegt? Oder am relativ günstigen Verkaufspreis? Ob Dortmund tatsächlich ein Problem mit Kokain hat, weil ziemlich viele Dortmunder täglich koksen? Der Wissenschaftler Ort sagt: "Wir wissen nicht, wer die Drogen konsumiert hat."

Die Geschichte, die das Abwasser erzählt, ist immer eine unpersönliche. Für die Ergebnisse spielt es keine Rolle, ob wenige Personen sehr viele Drogen nehmen, oder sehr viele Personen ganz wenige - die gefundene Menge bleibt dieselbe. Auch unterscheidet das Abwasser nicht zwischen tatsächlichen Stadtbewohnern, Pendlern und Touristen, die nur kurz in der Stadt sind. Wer in einer Stadt aufs Klo geht, wird erfasst. Deshalb nehmen Ort und seine Kollegen ihre Proben während einer möglichst normalen Woche im März oder April, "wenn keine Schulferien und keine große Feste sind".

Ende Juli sitzt er in einem schlichten Konferenzraum des Zürcher Instituts. Der spannende Teil seiner Arbeit finde am Computer im Büro statt, sagt Ort. Es gibt zwar Bilder des hochgewachsenen Schweizers, auf denen er sich behelmt in einem Kanalrohr duckt. Doch bei Score, dem Wissenschaftsnetzwerk der europäischen Drogensucher, kümmert er sich vor allem um die Statistik. Die Chemiker in den verschiedenen Ländern schicken ihm ihre Befunde, er bereitet sie auf und gibt sie weiter an die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) in Lissabon, wo einmal im Jahr der europäische Drogenreport erstellt wird.

"Man muss sich den Drogenkonsum wie ein großes, unvollständiges Puzzle vorstellen", sagt João Matias, Epidemiologe bei der EMCDDA. Zwar würden noch einige Teile fehlen, aber es kommen ständig neue dazu - 2011 zum Beispiel die Abwasseranalyse. "Vorher hatten wir fast nur die Umfragen", sagt Matias. Das Abwasser habe dann aufgedeckt, wie viel tatsächlich konsumiert werde. Mittlerweile wissen sie bei der EMCDDA ziemlich genau, wie sich der Drogenkonsum über Europa verteilt, räumlich und zeitlich.

Über Drogentrends erzählt das Abwasser mehr als jede Umfrage

Im Westen und Süden nehmen die Menschen mehr Kokain als anderswo. Zentren sind Zürich, Barcelona, Antwerpen und Amsterdam. Ecstasy wird überall genommen, Amphetamin, in der Szene auch Speed genannt, eher im Norden. Methamphetamin, bekannter als Crystal Meth, dominiert in Osteuropa. Große Mengen des Stoffs werden in Tschechien produziert, nahe der Grenze zu Deutschland. Als Christoph Ort einmal bei dem Betreiber einer Kläranlage in Dresden anfragte, ob er Proben bekommen würde, meinte dieser, hier würde man viel Methamphetamin finden - "das haben wir auch", sagt Ort. 180 Milligramm pro 1000 Einwohner wurden im vergangenen Jahr in Dresden gemessen, in Chemnitz, ebenfalls nahe der deutsch-tschechischen Grenze gelegen, waren die Werte sogar noch höher (240). In München, Berlin und den anderen Großstädten dagegen: so gut wie nichts.

"Das Abwasser ist ein ganzheitlicher Ansatz", sagt Matias. Weil die Analyse vergleichsweise einfach ist, zeichnen sich neue Trends früh in den Ergebnissen der Abwasseruntersuchung ab. Zum Beispiel 2016, als der Kokainkonsum aufgrund der gesteigerten Produktion in Südamerika zugenommen hatte. Oder im Jahr zuvor, als es Ecstasy-Pillen mit hoher Reinheit auf den Markt gespült hatte. Die Abwasseranalyse macht die großen Linien des Bildes sichtbar, die Umfragen liefern die feinen Details. "Wir brauchen beide Methoden", findet Matias: "Sie ergänzen sich, weil sie die Schwächen des anderen ausgleichen." Zumindest tun sie das im Moment noch.

Denn Ort und seine Kollegen arbeiten mehr oder weniger auf freiwilliger Basis. Inzwischen betrachten sie ihre Mission als weitestgehend erfüllt. Sie haben ein standardisiertes Verfahren entwickelt, das sich beliebig skalieren lässt. Und damit bewiesen, dass die Idee des Mailänder Pharmakologen Ettore Zuccato, eines Pioniers der Abwasseranalyse, auch im großen Stil funktioniert. Der Italiener und sein Team untersuchten 2005 das Wasser des Flusses Po auf Drogen - und fanden Erstaunliches: Der größte Fluss Italiens, schrieben sie, "transportiert jeden Tag das Äquivalent zu vier Kilo Kokain".

Dieses Prinzip hat die Score-Gruppe auf die Kläranlagen Europas übertragen, die, je nach technischem Stand, einen Großteil der meisten Substanzen abbauen und dafür sorgen, dass nur ein Bruchteil zurück in die Umwelt gerät. An vielen Standorten habe die Analyse des Abwassers "Routinecharakter", sagt Ort. Routinen mögen Wissenschaftler allerdings nicht, denn sie lässt sich nicht publizieren. Nun liegt es aus ihrer Sicht an der Politik und den Behörden, ob sie einen Nutzen in den Untersuchungen erkennen - und investieren wollen.

In Australien interessieren sich zurzeit die Kriminalbehörden für die Methode. Die Australian Crime Intelligence Commission untersucht das Abwasser von 12,7 Millionen Menschen, also über der Hälfte der australischen Bevölkerung. Zum Vergleich: Die Score-Gruppe deckt zwar 36 Millionen Menschen ab, das ist allerdings nur der Bruchteil aller Europäer. Die Schätzungen bleiben auf Städte begrenzt. Die Australier hingegen können errechnen, welche Rauschmittel das ganze Land konsumiert: knapp 8400 Kilogramm Methamphetamin, gut 3000 Kilo Kokain, 765 Kilo Heroin - jährlich. Gleichzeitig zeigt sich, wie schwer sich Drogensümpfe trockenlegen lassen. Nur 40 Prozent des Crystal Meth, das die Australier nehmen, konnten die Ermittler beschlagnahmen. Beim Heroin war es sogar nur ein Viertel. Für die Fahnder sind das ernüchternde Zahlen, aber immerhin: Sie wissen, womit sie es zu tun haben.

In Südafrika wird bereits am nächsten Projekt gearbeitet. Ein Frühwarnsystem für Seuchen

In Deutschland und Europa hingegen "tappt man bei der Marktanalyse völlig im Dunkeln", sagt Ludwig Kraus vom Münchner IFT Institut für Therapieforschung. Da die Produktion von Kokain, Crystal oder Ecstasy illegal ist, weiß keiner wie viel produziert wird und was im Umlauf ist, anders als etwa bei Zigaretten. Die einzige bekannte Größe "ist die Menge, die Zoll und Polizei beschlagnahmen. Aber das sagt nichts über den Markt aus". Für einen besseren Eindruck, schätzt Kraus, müsste man das Abwasser der 25 größten deutschen Städte untersuchen: "Das wäre für die Marktforschung sinnvoll." Zumindest dieses Kapitel hat das Abwasser noch nicht zu Ende erzählt.

Einige Forscher würden allerdings gern eine neue Geschichte hören. Sie glauben, dass ihnen das Abwasser nicht nur den Drogenkonsum einer Stadt verraten kann, sondern auch wie gesund die Bewohner leben, wie viele Zigaretten sie rauchen, wie fett sie sich ernähren, welchen Substanzen sie ausgesetzt sind, welche Krankheitserreger sie bedrohen. Im vergangenen Jahr fand zum Beispiel eine spanische Forschergruppe mittels Abwasseranalyse in der nordspanischen Küstenregion heraus, dass die Bewohner einer höheren Konzentration von Plastikweichmachern ausgesetzt waren, als von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit empfohlen. Eine andere Studie entdeckte im Abwasser eine starke Korrelation zwischen oxidativem Stress und dem Tabakkonsum einer Stadt.

In der Stadt Stellenbosch in Südafrika gibt es derzeit das wohl ambitionierteste Projekt: Forscher wollen das Abwasser nutzen, um eine Art Frühwarnsystem zu entwickeln. Dafür werden mehr als 200 Biomarker identifiziert, Moleküle, die der Körper bei Krankheit produziert und ausscheidet. Wenn alles gut geht, lässt sich der öffentliche Gesundheitsstatus in Echtzeit ermitteln. Ausbrechende Seuchen könnten erkannt werden, bevor Menschen sterben. Vor allem ärmliche urbane Regionen, in denen viele Menschen eng beisammenleben, könnten davon profitieren. Der Leiterin des Projekts, Barbara Kasprzyk-Hordern, schwebt ein "nationales und schlussendlich globales Kontrollsystem" vor.

Dennoch scheinen sich Forscher bisher nicht allzu sehr für Krankheitserreger im Abwasser zu interessieren. Es gibt wenige Arbeitsgruppen und noch weniger öffentliches Interesse als damals bei den Drogen. "Vielleicht glauben wir, vieles schon zu wissen", sagt Christoph Ort. Es wird schließlich präzise dokumentiert, wie viel Alkohol verkauft wird oder wie viele Süßigkeiten erworben werden. Auch über Krankheiten gibt es genügend Statistiken. Bei Drogen ist das anders, hier führt keiner umfassend Buch. Dieses Geheimnis kennt nur das Abwasser. Und um es zu lüften, braucht es nicht mehr als ein paar Tropfen einer trüben, stinkenden Brühe.

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