Die Frage, ob Menschen über einen freien Willen verfügen, wird derzeit vor allem von Hirnforschern, Philosophen und Juristen geführt. Jetzt hat sich der Evolutionsbiologe und Wissenschaftstheoretiker Franz M. Wuketits von der Universität Wien mit einem Buch zu Wort gemeldet: Der freie Wille, Die Evolution einer Illusion.
sueddeutsche.de: Hat der Mensch einen freien Willen?
Franz M. Wuketits: Nein. Wir haben nur die Illusion eines freien Willens. Eine Illusion, die sich im Verlauf der Evolution beim Menschen entwickelt hat.
sueddeutsche.de: Unser subjektiver Eindruck ist aber, dass wir uns frei entscheiden können, wenn keine äußeren oder inneren Zwänge auf uns wirken.
Wuketits: Im Alltag bemerken wir nicht, dass dies nur eine Illusion ist. Wir überlegen uns ja nicht ständig, was wir tun oder nicht tun und fragen nicht, ob ein freier Wille dahinter steckt.
sueddeutsche.de: Was bringt Sie aber überhaupt zu der Überzeugung, dass wir keinen freien Willen haben?
Wuketits: Erst einmal ist jeder von uns gewissermaßen zweifach gebürdet: Zum einen durch die Evolution unserer Gattung. Alle unsere Aktivitäten entspringen Fähigkeiten, die in unserer Stammesgeschichte entstanden sind. Dabei geht es letztlich immer darum, zu überleben und sich fortzupflanzen. Unsere Kulturen stellen lediglich Verfeinerungen der Evolutionsstrategien dar.
sueddeutsche.de: Und die zweite Bürde?
Wuketits: Das ist unsere jeweilige Biografie. Je älter wir werden, umso mehr schleppen wir mit uns herum: Erfahrungen, Prägungen, Wünsche, Hoffnungen, Ängste. Davon können wir uns nicht trennen. Alle Entscheidungen, die wir treffen, treffen wir auf der Basis dieser stammesgeschichtlichen und individualgeschichtlichen Faktoren.
sueddeutsche.de: Und da ist kein Platz und keine Notwendigkeit für einen freien Willen?
Wuketits: Weder noch.
Weiter zum nächsten Teil: Menschlicher Geist - "Das Rätsel ist im Wesentlichen entschlüsselt"