Süddeutsche Zeitung

Diskriminierte Minderheit:Von Roma-Slums und "Gipsy Industry"

Lesezeit: 2 Min.

Die Roma werden seit Jahrhunderten an den Rand der Gesellschaft gedrängt, allzu oft werden mit ihnen Attribute wie Diebstahl und Schulschwänzen verbunden. Doch wer sind sie wirklich? Buchautor Norbert Mappes-Niediek klärt auf.

Von Klaus Brill

Der Titel, "Arme Roma, böse Zigeuner", führt geradewegs hinein in die quälenden Dilemmata des Themas. Die Lage der mehr als zehn Millionen Menschen, die in Europa zur vielfach zersplitterten Ethnie der Roma zählen, gibt immer wieder Anlass zu erregten Debatten.

Die leiden meist darunter, dass die Kommentatoren vom Gegenstand kaum Ahnung haben und ihre Ratlosigkeit hinter negativen oder positiven Vorurteilen verbergen. Dagegen bietet dieses Buch Abhilfe.

Der Autor, seit Langem als Balkan-Korrespondent unterwegs, packt auf der Basis eigenen Erlebens und ausgiebigen Studiums der Fachliteratur vieles auf den Tisch, was noch keineswegs Allgemeingut ist.

So legt er dar, wie die Roma nach dem Auszug aus Indien im späten Mittelalter in Rumänien in die Sklaverei der Bojaren gerieten, aus der sie erst 1856 erlöst wurden, kurz vor der Sklavenbefreiung in den USA. Der Vergleich ist treffend: Die Erforschung posttraumatischer Belastungen der Afro-Amerikaner gibt eine Vorstellung davon, wie die ewige Erniedrigung auch die Mentalität der Roma auf Generationen hin geformt haben könnte.

Hinzu kam die rassistische Aussonderung, am schlimmsten in der Nazi-Zeit - für das Selbstwertgefühl der Betroffenen eine Verheerung.

Gesellschaft ohne Strukturen

Sie hat gewiss ihren Anteil daran, dass die Roma oberhalb von Familie und Sippschaft keine gesellschaftlichen Strukturen ausgebildet haben, wie Norbert Mappes-Niediek darlegt: keine Elite, keine anerkannte Hierarchie, keine Institutionen, keine Bürgergesellschaft und kein Rechtswesen, das über das Gemurmel der Räte der Alten hinausginge.

Gemein- und Staatssinn sucht man meist vergebens. Die Unterschiede zur Mehrheitsbevölkerung sind riesig, angefangen bei den Beschränkungen der Roma-Sprache bis zu den divergierenden Vorstellungen über Zeit und Geld, Vergangenheit und Zukunft, Eigentum und Wirtschaft, über Reinlichkeit und das, was gut und wichtig ist im Leben.

Der Autor bringt für die Roma viel Verständnis auf und wettert - gelegentlich im Übermaß - über die Ignoranz "der Anderen".

"Gipsy Industry"

Doch übergeht er nicht die Negativa, das Schulschwänzen etwa, die Metalldiebstähle oder jene schrägen Aktivisten, die in der aufblühenden Projekt-Kultur Südosteuropas sich als Partner westlicher Hilfsorganisationen oder der EU die Taschen füllen.

Manche Roma-NGO, schreibt er, bestehe nur aus einem Vorsitzenden und seinem Bankkonto. Experten sprechen von der "Gipsy Industry" und sind sich einig, dass viel Geld falsch ausgegeben wird.

Die Lage ist zwiegespalten, auch der Autor entkommt dem Dilemma nicht. Er ergreift Partei für die Ärmsten, doch zu Wort kommen die Slum-Bewohner kaum. Zur Begründung zitiert er den Chef einer Großfamilie, der "euren Journalisten" pauschal böse Absichten unterstellt und sagt, man binde ihnen deshalb gern mal einen Bären auf: "Auf einen Schelmen anderthalbe setzen: das ist unsere Rache."

Wer selber als Reporter je in einem Roma-Slum war, kann bestätigen, dass normale Recherche dort nicht weit führt. Das Misstrauen ist kaum überwindbar, am Ende bleibt man fast immer ratlos.

Norbert Mappes-Niediek: "Arme Roma, böse Zigeuner". Ch. Links Verlag, Berlin 2012. 208 S., 16,90 Euro.

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Quelle:
SZ vom 21.05.2013
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