Süddeutsche Zeitung

Deutschland nach dem Atomausstieg:Stromausfall? Fällt aus!

Sämtliche deutsche Kernkraftwerke könnten sogar bis 2017 vom Netz gehen, ohne dass die Versorgung darunter leidet, vermuten Experten. Letztlich ist der Atomausstieg eher eine Frage des Preises. Und für Deutschland als Industrienation mehr Chance als Risiko.

Christopher Schrader

Am Pfingstmontag wird es kritisch, sagt Matthias Kurth. Strahlender Sonnenschein und kräftige Brisen im Norden einerseits, die viel Wind- und Solarstrom erzeugen, und die nach einem langen Feiertagswochenende immer noch stillstehenden Fabriken andererseits könnten ein Ungleichgewicht auf dem Strommarkt bewirken: zu viel Erzeugung und zu wenig Verbrauch. "Die Netze sind dann unter Stress", sagt der Präsident der Bundesnetzagentur. "Das kann zu Schwierigkeiten führen." Stromausfälle seien möglich.

Christian von Hirschhausen hält das für Quatsch: "Ich habe meinen Studenten eine Wette angeboten, ein Professorengehalt gegen einen Bafög-Satz, dass wir keinen Stromausfall bekommen", sagt der Professor an der Technischen Universität Berlin. "Aber es wollte keiner dagegenhalten."

Die möglichen Folgen eines Blackouts in einem Industrieland wie Deutschland darf man nicht abtun, aber eine Diskussion über den Pfingstmontag ist eher ein Geplänkel. Und es wird sich noch zeigen, ob sich der Netz-Überwacher Kurth mit seiner Feiertagswarnung einen Gefallen getan oder seiner Glaubwürdigkeit geschadet hat. Schließlich steckt seine Behörde mitten in einer weit ernsteren Diskussion, die auch die Politik beschäftigt: die Debatte um Stromausfälle in einem der kommenden Winter, wenn wegen der abgeschalteten Kernkraftwerke nicht genug Elektrizität zur Verfügung steht. Solche Ausfälle, versicherte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Donnerstag, werde es mit ihr nicht geben. Auch FDP-Chef und Wirtschaftsminister Philipp Rösler nahm das Thema auf: "Eines können wir uns in Deutschland nicht leisten: einen Blackout."

Dazu wird es auch nicht kommen, da sind sich führende Energieforscher einig. "Wir bekommen keine Stromausfälle", sagt von Hirschhausen, nachdem er die Situation an einem durchschnittlichen Wintertag im Computer simuliert hat. "Es gibt genug Kraftwerke und genug Netzkapazität." Nur wenn alle Kernkraftwerke, nicht nur die acht ältesten, sofort vom Netz gingen oder blieben, fehle Strom, etwa ein Gigawatt. Der komplette Ausstieg sei aber schon 2014 oder spätestens 2018 kein Problem, es würden genug neue Kraftwerke gebaut.

Dem stimmt nicht nur das in solchen Fragen oft fortschrittlich gesinnte Umweltbundesamt zu, das schon im Mai einen Ausstieg bis 2017 für möglich erklärte, sondern auch Hirschhausens Kollege Markus Blesl vom Institut für Energiewirtschaft der Universität Stuttgart, wo man meist eher konservativ rechnet. "Ein Atomausstieg bis 2017 wäre technisch möglich", sagt er. Der Grund ist einfach: "Seit dem rot-grünen Ausstiegsbeschluss hat sich die Energiewirtschaft darauf eingestellt, die Kernkraftwerke bis etwa 2022 zu ersetzen." Das Energiekonzept der Regierung aus dem vergangenen Jahr, also aus der Zeit vor Fukushima, hätte demgegenüber zu Überkapazitäten geführt. Es galt aber nicht lange genug, um strategische Investitionsentscheidungen zu beeinflussen.

Ähnlich äußern sich die Nationale Akademie der Wissenschaften, die Wirtschaftsberater von Prognos im Auftrag der Bayerischen Wirtschaft, Wolfgang Mauch von der Forschungsstelle Energiewirtschaft der Universität München, das Ökoinstitut und Greenpeace sowieso: Niemand bezweifelt, dass sogar ein um etliche Jahre früherer Atomausstieg als der jetzt beschlossene ohne Gefahren für die Versorgungssicherheit möglich wäre. Risiken werden eigentlich nur von B-Promis wie Wolfgang Clement (Ex-SPD) beschworen, der seit Ende seiner Ministerkarriere Aufsichtsrat der Kraftwerkstochter des Energiekonzerns RWE ist.

Der Ausstieg ist allerdings eine Frage des Preises: Die Kosten für den Verbrauch von elektrischer Energie dürften etwas stärker steigen, als ohnehin für die kommenden 20 Jahre erwartet wurde. Für einen Vier-Personen-Haushalt, kalkuliert das Wirtschaftsministerium, liefe das auf einen Aufschlag von 30 bis 40 Euro pro Jahr hinaus. Die Stuttgarter Energieforscher rechnen mit Mehrkosten von etwa einem Cent pro Kilowattstunde, die der Ausstieg bis 2022 verursacht. Das Umweltbundesamt nennt Aufschläge von 0,6 bis 0,8 Cent, die Prognos-Analysten kommen auf etwas niedrigere Werte von 0,3 bis 0,6 Cent pro Kilowattstunde. Für Privatverbraucher würde sich der Strompreis bis 2020 demnach um 17 statt um 15 Prozent verteuern; die energieintensive Industrie müsste bei deutlich niedrigeren Strompreisen Mehrkosten von 27 statt 17 Prozent verkraften.

Mehr Kohle- oder Gasstrom statt erneuerbarer Energien

Interessant an diesen Berechnungen ist die Vergleichsbasis: Die Fachleute legen die mögliche Entwicklung der Strompreise zugrunde, die die von der Regierung im vergangenen Herbst beschlossene Laufzeitverlängerung hätte bewirken können. Zwar weiß kein Mensch, ob die Stromkonzerne ihre höheren Profite aus den abgeschriebenen Reaktoren in Form moderater Preise an ihre Kunden weitergegeben hätten; für die Diskussion über die Strompreise nach dem Atomausstieg wird das Potential zur Kostenreduktion jedoch als bereits verbuchter Besitzstand betrachtet. Im Vergleich zum Szenario auf Basis des rot-grünen Ausstiegsbeschlusses ändert sich an den erwarteten Strompreisen übrigens viel weniger.

Ohne Zweifel wird der Kraftwerkspark Deutschlands mehr Treibhausgase ausstoßen, wenn die Kernkraftwerke früher als 2010 geplant abgeschaltet werden. Erneuerbare Energieformen können die Lücke allenfalls langsam füllen, stattdessen wird mehr Kohle- oder Gasstrom durch das Netz fließen. Einen Widerspruch zum notwendigen Klimaschutz erkennen Energiefachleute im Aussstiegsbeschluss trotzdem nicht. "EU-weit entstehen durch den Emissionshandel keine höheren Treibhausgas-Emissionen", heißt es beim Umweltbundesamt. Alle Kraftwerke zusammen dürfen nur eine bestimmte Menge CO2 ausstoßen, und jeder Betreiber muss dafür Zertifikate erwerben. Die Deutschen müssen darum nun mehr dieser Berechtigungsscheine kaufen. Das dürfte deren Preis ansteigen lassen - die Stuttgarter Experten schätzen um bis zu 12 Euro pro Tonne Kohlendioxid, das wäre eine Steigerung der aktuellen Werte um 70 Prozent. Der Theorie des Marktes zufolge würden dann andere Teilnehmer auf ihren Ausstoß verzichten, weil der Erlös der Zertifikate ihnen ein besseres Geschäft verspricht.

Erst langsam rückt zudem ein Aspekt ins Bewusstsein, der Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit erheblich verbessern könnte. Es wäre der erste Industriestaat, der umfassende Lösungen für eine umweltfreundliche und kernkraftfreie Energieversorgung entwickelt - die später zum Exportschlager werden könnten. "Es gibt Tausende Optionen, wie wir die Umstellung gestalten können, darunter sind etliche, wo wir unsere Vorteile ausspielen können", sagt der Münchner Experte Wolfgang Mauch. Wirtschaftsminister Rösler bestätigte das am Donnerstag vor dem Bundestag: Andere Staaten würden "Produkte, Instrumente und Ideen für die Nutzung erneuerbarer Energien benötigen. Genau an dieser Stelle wird Deutschland dann federführend sein. Das bedeutet für unsere deutsche Wirtschaft kein Risiko, sondern eine Chance."

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Quelle:
SZ vom 11.06.2011
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