Süddeutsche Zeitung

Der Kuckuck stirbt aus:Dem die Stunde schlägt

Der Klimawandel bringt viele Zugvögel dazu, ihr Winterquartier früher zu verlassen als gewöhnlich. Nicht so den Kuckuck - und wenn er zurückkommt, kann er niemandem seine Eier unterjubeln.

Rayk Wieland

Was für ein Vogel! Welch ein Charakter! Seit Jahrhunderten immer wieder Thema, wenn nicht Dauerthema, sogar Reizthema. Er polarisiert, er spaltet, er ist nicht zu fassen.

Für die einen der "Hüter des Waldes", der "Herold des Frühlings" ("Tiervater" Brehm). Für die anderen "eine höchst problematische Natur" (Goethe). Aristoteles zeiht ihn der äußersten Feigheit, Plinius nennt ihn einen Betrüger.

Vielfach besungen, gern bedichtet, präsent in unzähligen Redewendungen. Gilt als Blender, Täuscher, mindestens als Sonderling. Wird gerühmt als Künstler, als Lebenskünstler. Verehrt als Don Juan. Und geschmäht als Eierdieb.

Der Kuckuck, Cuculus canorus, zu Deutsch: der Klangreiche. Jeder kennt ihn genau, niemand kennt ihn wirklich - er ist der bekannteste Unbekannte unter den Vögeln dieser Welt. Das monotone Mono-Tremolo, das er in Frühjahr und Sommer zur Symphonie des Waldes beisteuert, wird niemand als besonders klangreich empfinden.

Ein Ruf wie aus einer kaputten Blockflöte für Anfänger. Zweitonmusik. Gratis-Klingelton für Handys, an die nie jemand rangeht. Er ruft, heißt es, die Anzahl der Jahre, die einem zu leben bleiben. Bei ihm sind es immer 161. Aber bis dahin zählen nur die Gutwilligsten mit.

Unglücklichster Kuckuck aller Zeiten

So berühmt, wie er war, so traurig-berühmt ist er heute: Der Kuckuck unserer Tage ist der unglücklichste Kuckuck aller Zeiten. Wenn zutrifft, was Ornithologen und Naturschützer seit einigen Jahren beobachten, droht ihm das Arten-Aus.

Nicht auf die übliche Tour, dem bekannten Mix aus Umweltverschmutzung, Flächenschwund, Bejagung. Sein drohendes Aussterben vollzieht sich auf tragische, ja, nein, doch: tragödientaugliche Weise.

Diesem Vogel ist die Liebe abhandengekommen. Der Kuckuck und die Kuckuckin, sie können zusammen nicht sein.

Das Drama, in Kürze, ist dies. Infolge der Erderwärmung kehren viele Zugvögel früher in ihre Brutgebiete zurück. Viele - der Kuckuck nicht. Sei's aus Auserwähltheitsdünkel, aus prinzipieller Ablehnung des Herdentriebs, sei's aus Phlegma oder genetischer Borniertheit - der Kuckuck macht nicht mit, er lässt sich nicht hetzen.

Wenn er schließlich aus seinem Winterquartier eintrudelt, findet er keine Pflegeeltern mehr, die seine Eier ausbrüten. Der Zaunkönig, das Rotkehlchen, die Bachstelze und all die anderen, in deren Nestern er bisher, ohne viel Federlesen, seinen Nachwuchs einquartierte, sind mit Familiengründung und Eigenheimbau schon zu weit fortgeschritten, als dass er da noch zum Zuge käme.

Das ist die Situation. Tausende Jahre hat es funktioniert - jetzt nicht mehr. Die bedrohlich und immer deutlicher heraufziehende Klimakatastrophe, langsam Fahrt aufnehmend, hat ihr erstes prominentes Opfer gefunden: einen Vogel, der nicht mehr zum Vögeln kommt.

Wie der Kuckuck sich im Moment fühlen mag, was in ihm vorgeht und wie er dieses akute Zölibat wegsteckt, wir wissen es nicht. Wir wissen überhaupt nicht gerade viel. Seit Äonen versuchen Vogelforscher, Philosophen, Dichter, Wesen und Gewese des Kuckucks zu enträtseln, und landen stets, mehr oder weniger ratlos, bei sich selbst.

Wer den Kuckuck beobachtet, sieht in den Spiegel, und wer die Kuckucksbeobachter beobachtet, wird feststellen: Wie kein anderer Vogel eignet sich der Kuckuck, Symbol und Projektionsfläche zu sein für das, was den Menschen umtreibt. Ein Popstar in den Liedern, in Sprüchen und im Volksaberglauben der vergangenen Epochen, ist er der klassische Stellvertretertyp, für jede Schandtat zu haben, und, ja, zuzeiten das role model einer ganzen Ära.

Schon die simple Frage, was für ein Typ das sei, der Kuckuck, ragt jahrhundertelang unbeantwortet, schier unbeantwortbar in den Raum. Er ist die Crossover-Variante des Vogels schlechthin: nichtbrütender Eierleger, fleischfressender Vegetarier.

In der Antike hält man ihn für einen Vogelarten-Verwandlungskünstler, der vom Singvogelei im Frühling bis zur Metamorphose in einen Greifvogel im Herbst alle möglichen Stationen durchläuft. Lange sortieren ihn Experten irgendwie zwischen Gegenkrähe und Nebeneule ein.

Ein eigenes Nest? Niemals!

Später gilt er, wegen seines zu weichen Schnabels, als abgebrochener Reservespecht. Federkleid und Flugverhalten lassen einen Aushilfssperber vermuten.

Ein eigenes Nest? Niemals! Warum er keins baut, bauen will, bauen muss - Goethe nennt es "ein offenbares Geheimnis, das aber nichtsdestoweniger schwer zu lösen, weil es offenbar ist". Weil er es nicht kann? Weil es genug Vögel gibt, die für ihn diesen Job erledigen? Weil es zwar anders geht, so aber auch?

Das Unterjubeln des ungebetenen Untermieters im Schlafzimmer der arglosen Mitbürger ist Theateraufführung, Schmierenkomödie und Schurkenstück. Während er, der Kuckucks-Patriarch, die Anwesenden durch eine kleine Darbietung, auffällige Faxenmachereien, falschen Alarm, Verrenkungen und Grimassen ablenkt, legt sie, die Kuckuckin, von allen unbemerkt, ihr Ei ins Nest der anderen.

Die sind anschließend nicht zu beneiden. Ohne ethische Bedenken stößt und wirft das von Anfang an beachtlich egomanische Kuckucks-Küken seine Stiefbrüder aus dem Kinderzimmer und lässt sich dann, dreimal größer als die armen Eltern, wie ein Kronprinz rund um die Uhr hochpäppeln und durchfüttern, wobei er sich kaum mit den vom Lieferservice herbeigeschafften Festtagsportionen zufriedengibt, die ganze Rotkehlchen-Populationen eines Waldes mühelos durch den Winter bringen würden.

An die 18 Mal in ebenso vielen Nestern wiederholt sich der mörderische Vorgang pro Frühjahr pro Kuckuck. Vogelleichen pflastern seinen Weg. So gesehen ist er als Serien- und Triebtäter waldpolizeilich bekannt.

Lange Zeit glaubt man, der Körper des Kuckucks sei zum Brüten nicht geeignet. Dann wird vermutet, er sei mit anderen Dingen einfach zu beschäftigt, um sich selbst um den Nachwuchs kümmern zu können.

Die Ornithologen des 17. und 18. Jahrhunderts suchen ihr Heil in der Psychologie. Sie geben mal ihm, dem Kuckuck, mal ihr, der Kuckuckin, die Schuld an den notorischen Beziehungsproblemen des Paars. Johann Heinrich Zorn, ein vogelforschender Pfarrer aus dem Fränkischen, ist nach längerer Kuckucks-Observierung überzeugt, dass er es sei, der an einer dauerhaften Bindung kein Interesse habe und so ein geregeltes Familienleben torpediere.

Alfred Brehm hingegen, unser "Tiervater", gibt allein ihr die Verantwortung für die Flatterhaftigkeit des Vogels. Das Weibchen schweife, berichtet er, "regellos durch verschiedene Gebiete der Männchen, bindet sich an keines von diesen, gibt sich vielmehr allen hin, welche ihm genehm sind, lässt sich nicht suchen, sondern zieht seinerseits auf Liebesabenteuer aus, und kümmert sich, nachdem seine Wünsche Befriedigung fanden, nicht mehr um den Liebhaber, welchen es eben begünstigt hatte. (...)Diese Ungebundenheit und Unstetigkeit des Weibchens erklärt nach meinem Dafürhalten gewisse bis jetzt noch räthselhafte Vorkommnisse beim Legen der Eier auf das einfachste und befriedigendste."

Er: ein Macho von altem Schlag? Sie: eine kompromisslose Ultrafeministin? Diese reizvolle und immer wieder Perplexität erzeugende Konstellation wäre demnach eine Erfindung der Neuzeit, sondern geht urheberrechtlich auf den Kuckuck zurück.

In den nicht oft genug zu konsultierenden Gesprächen zwischen Goethe und Eckermann kommt der Kuckuck am 8. Oktober 1827 zur Sprache. Eckermann, der gutmütige Schwärmer, plädiert wortreich und mit vielen Beispielen für den Kuckuck als beliebtesten Vogel des Waldes.

"Sobald der junge Kuckuck sein niederes Nest verlassen hat und seinen Sitz etwa im Gipfel einer hohen Eiche genommen hat, lässt er einen lauten Ton hören, welcher sagt, dass er da sei. Nun kommen die kleinen Vögel der Nachbarschaft, die ihn gehört haben, herbei, um ihn zu begrüßen. Es kommt die Grasmücke, es kommt der Mönch, die gelbe Bachstelze fliegt hinauf, ja, der Zaunkönig ( ...) erhebt sich, dem geliebten Ankömmling entgegen, zum Gipfel der hohe Eiche."

Goethe, von den anrührenden Homestorys, die Eckermann ihm auftischt, durchaus beeindruckt, sieht am Ende des Tages die Beliebtheit des Kuckucks gar als Beweis für die Allgegenwart Gottes, "der einen Teil seiner unendlichen Liebe überall eingepflanzt und verbreitet hat und schon im Tiere dasjenige als Knospe andeutet, was im edlen Menschen zur schönsten Blüte kommt".

Freie Liebe für freie Kuckucke

Charakterstudien, die dieser Vogel magisch anzieht wie kein anderer, differieren denkbar stark und diffundieren in alle politischen Spektren und Soziotope.

Manche wollen in ihm einen fehlgeleiteten Anarchisten sehen, der die Regeln des Waldes nicht akzeptiert und der nur das tut, was ihm passt. Andere halten ihn für einen König, der Kindererziehung, Familienkrempel und Hemdenbügeln anderen überlassen kann.

Wieder andere sehen im Kuckuck den überkandidelten Quasi-Künstler, der sozusagen höhere Ziele verfolgt und ansonsten freie Liebe für freie Kuckucke predigt.

In unseren Tagen, wie um sein Portfolio des Suspekten zu komplettieren, firmiert er als Shareholder-Value-Manager, der seine faulen Kredite gern in den Fonds der anderen platziert.

Es wird, wenn vom Kuckuck gesprochen wird, von keinem Vorbild gesprochen. Autos kaufen bekanntlich keine Autos, Kuckucke ziehen keine Kuckuckskinder auf. Die ganze Lebensweise des Kuckucks steht unter Generalverdacht und quer zur neokonservativen Mode.

Dabei hat die moderne Ornithologie, verhaltensbiologisch, evolutionsbiologisch, genetisch aufgerüstet, für alle Ungereimtheiten im Kuckuckszusammenhang denkbar klare Antworten parat. Geht es nach ihr, ist dem Vogel nichts vorzuhalten und nichts vorzuwerfen. Der Kuckuck agiert im Okay-Bereich.

Sein demonstrativer Nichtnestbau und die Abneigung gegen Ehegelöbnis und Bausparvertrag haben Gründe, gute Gründe. So unterscheide sich die Nahrung des erwachsenen Kuckuck stark von der, die der Nachwuchs benötigt.

Die Alten fräßen haarige Raupen und größere Insekten, welche von den Jungen nicht verdaut werden könnten. So sei der Kuckuck existentiell darauf angewiesen, seine Kleinen in die Kindergärten der anderen Singvögel zu geben. Der Brutparasitismus, wie Biologen die wiederkehrenden Massaker im Nest umschreiben, entspringe keinen moralischen Defiziten, sondern sei erblich bedingt.

Auch sein verbummeltes Zugverhalten könne keineswegs als Provokation gewertet werden. Als sogenannter Langzügler, der sein Winterquartier südlich der Sahara nimmt, orientiere er sich bei der Abreise eher an den Tag- und Nachtlängen und nicht, wie andere Singvögel, die nur auf Stippvisite und weniger weit im Süden weilen, an den steigenden Temperaturen.

Daher sein Säumen, seine fatale Spätheimkehrerschaft. Das alles ist einleuchtend, sehr einleuchtend, vielleicht zu einleuchtend. Am Ergebnis ändert das nichts. Die Party ist vorbei.

Gorbatschow, der Hobby-Ornithologe, hat es prophezeit: "Wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte." Womöglich geht, von hier und heute aus, vor unseren Augen, eine ganze Epoche mit Vögeln dem Ende entgegen. Der Specht zum Beispiel hat bereits umgeschult auf Fernsehdoktor. Der Star nistet in Hollywood.

Die Ente steht neben dem WC. Der Kuckuck immerhin ist auf dem besten Weg, als Maskottchen der letzten Finanzkrise zu überleben, das an der Wohnungstür der vor kurzem verschwundenen Nachbarn klebt.

Der Gang der Dinge, der Lauf der Zeit. Mag sein, mit seinem dunkelbraunen Kuckucksuhren-Nimbus wirkte er schon länger wie ein verstaubtes Überbleibsel aus einer Zeit, als die Laubsäge-Arbeit noch nicht der Inbegriff für geistiges Kleinholz war.

Als Kinder noch Frühlingslieder sangen. Als es vor allem noch echte Köpfe gab, auf denen richtige Hüte saßen, die mit realen Vogelfedern bestückt waren, die vom wirklichen Kuckuck stammten.

Aus einer Zeit, als die Liebe noch funktionierte.

Rayk Wieland, geboren 1965 in Leipzig, lebt als Autor und TV-Journalist in der Nähe von Hamburg. Im Frühjahr 2009 erschien sein erster Roman "Ich schlage vor, dass wir uns küssen" im Verlag Antje Kunstmann, München.

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Quelle:
SZ vom 05.05.2010/cosa
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