Der Fall in Göttingen:Das Verfahren läuft, und läuft, und läuft

16 Monate nach ersten Zweifeln an einer Krebstherapie der Universität Göttingen ist noch nicht viel aufgeklärt - statt dessen gibt es dort einen neuen Verdachtsfall.

Holger Wormer

(SZ vom 21.05.2002) - Die Vorwürfe waren dramatisch: Ein zunächst bejubelter Versuchs-Impfstoff gegen Nierenkrebs sei wahrscheinlich nicht wirksam, vielleicht sogar schädlich, ethisch jedenfalls nicht vertretbar, warnten Experten.

Forschungsarbeiten, die Heil-Erfolge belegen sollten, erwiesen sich als fragwürdig. Eine Abbildung in einer Arbeit der Hauptautoren Gernot Stuhler (Tübingen) und Alexander Kugler (Göttingen) stammte nicht aus Experimenten, sondern war von der Internetseite einer Firma kopiert worden.

An 500 Patienten ausprobiert

Den Impfstoff selbst, der - nach jüngsten SZ-Informationen - an 500 Patienten ausprobiert wurde, nannte der Würzburger Professor Ulrich Zimmermann ein "Göttinger Gebräu", das an "mittelalterliche Mixturen" erinnere (Süddeutsche Zeitung, 3.7. u. 24.7. 2001, siehe unten).

Um was es sich bei den Impfungen gegen Krebs an der Universität Göttingen tatsächlich handelte, ist bis heute nicht klar, 16 Monate nachdem intern erste Vorwürfe bekannt wurden. "Wir haben an allen Fronten mit dem Datenschutz zu kämpfen gehabt", klagt Hans-Jürg Kuhn, der die Geschäfte einer Untersuchungskommission der Universität führt.

Das Gremium wurde eingesetzt, da der Vorsitzende einer ersten Kommission der Medizin-Fakultät dem Vorwurf der Befangenheit ausgesetzt war. Der Bericht der neuen Kommission, so hatten Medizin-Dekan Manfred Droese und Universitätspräsident Horst Kern im Juli vergangenen Jahres verkündet, sei für den 15.September 2001 vorgesehen.

"Schon da war abzusehen, dass dieser Termin auf keinen Fall einzuhalten war", so Kuhn. Allein die Prüfung der Fakten brauche viel Zeit - obwohl die Kommission mit Hilfe von vier externen Gutachtern nur eine einzige der fraglichen Arbeiten untersucht, die in der Fachzeitschrift Nature Medicine(1) veröffentlicht ist. Dort geht es um 17 zwischen 1998 und 1999 behandelte Patienten.

Gutachter haben erst mit Prüfung begonnen

Die Gutachter haben aber gerade erst mit der Prüfung begonnen. "Sie wollten die Sache nicht in die Hand nehmen, bevor die Krankenblätter all dieser Patienten vorlagen", sagt Kuhn. Dazu habe man auf die Genehmigung der Angehörigen und der zuletzt behandelnden Ärzte warten müssen.

Auf das Resultat wartet auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Sie ist an dem Fall interessiert, weil mit Lothar Kanz aus Tübingen und Rolf-Hermann Ringert aus Göttingen zwei Mitautoren der fraglichen Publikation als DFG-Gutachter arbeiteten. Die langsamen Fortschritte betrachte man mit Sorge, sagt DFG-Justitiar Harald von Kalm. Er selbst habe sich zwar vor Ort nach dem Stand erkundigt: "Wir haben aber keine rechtlichen Möglichkeiten, direkt an Unterlagen zu kommen." Erst nach dem Göttinger Bericht kann die DFG über eventuelle Sanktionen beraten.

Hunderte Patienten als 'individuelle Heilversuche' behandelt

Dabei geht es freilich nicht nur um die Vorwürfe gegen die Veröffentlichung. "Wir wollen auch sehen, wie es möglich ist, mehrere hundert Patienten als 'individuelle Heilversuche' zu behandeln", sagt von Kalm. Denn in der urologischen Abteilung von Ringert wurden 400 Kranke behandelt, etwa 100 erhielten die umstrittene Impfung gegen Krebs in der Abteilung Nephrologie des Professors Gerhard Müller. Trotz der hohen Zahl soll es sich dabei nicht um eine Studie gehandelt haben, sondern eben lediglich um "individuelle Heilversuche".

Ob dabei alles mit rechten Dingen zuging, beschäftigte auch die Bezirksregierung Braunschweig. Dort müssen Göttinger Ärzte Studien mit Patienten anzeigen - allerdings nur, wenn die Versuche nach einer "gewissen Systematik" vorgenommen werden, wie es in Braunschweig heißt. Dass man an der Göttinger Klinik bei mehreren hundert Behandelten besonders systematisch vorgegangen ist, konnte man bei der Bezirksregierung nicht erkennen.

Anhand von Patientendaten hat sie dies aber nicht überprüft. Bei individuellen Heilversuchen habe man schließlich kein Zugriffsrecht auf diese Daten, lautet die Logik der Behörde: Hier müsse man den Angaben der Universität glauben, wonach nicht systematisch behandelt wurde und es sich um individuelle Heilversuche gehandelt habe.

Vom Gesetzgeber nicht klar geregelt

Inzwischen liege die schriftliche Zusage vor, dass derzeit keine weiteren Krebskranken nach der fraglichen Methode geimpft werden. Sobald das geschehe, werde es angezeigt, denn ab sofort soll es sich dann doch um eine Studie handeln, sagt Andreas Meißner von der Bezirksregierung. Wann ein "individueller Heilversuch" aufhöre und eine Studie anfange, sei vom Gesetzgeber eben nicht klar geregelt, so Meißner. Für die Versicherung der Patienten ist das jedoch wichtig.

Auf die Frage, wie systematisch in den Abteilungen Ringert und Müller behandelt wurde, wird auch die Kommission der Universität kaum Antworten liefern. Ebensowenig wird sie klären, ob die Impfung wirksam ist. "Das ist nicht unser Auftrag", sagt Hans-Jürg Kuhn. Stattdessen hat die Medizin-Fakultät eine Privatfirma mit der Prüfung von rund 200 der "individuellen Heilversuche" beauftragt.

Die Daten der 100 Patienten von Müller seien bereits ausgewertet, sagt Dekan Manfred Droese. Weitere 100 zufällig ausgewählte Fälle der Abteilung Ringert sollen bis in zwei Monaten auf ihre Wirksamkeit untersucht werden. Einschließen will man auch die 17 Fälle aus Nature Medicine, bei denen es sich laut Droese auch um Heilversuche handelt. Alle Fälle im Nachhinein auszuwerten, wäre zu teuer gewesen, so der Dekan.

Besuch von einer Ombudsgruppe der DFG

Während sich die Aufklärung des Falls hinzieht, muss man sich an der Göttinger Klinik nach Informationen der Süddeutschen Zeitung bereits mit einem weiteren Verdacht beschäftigen. Letzte Woche erhielten zwei Medizinprofessoren Besuch von einer Ombudsgruppe der DFG.

In einer Kongress-Veröffentlichung hatten beide von der erfolgreichen Heilung eines Patienten berichtet. Einer der Mediziner ist bereits aus den Vorfällen im vergangenen Jahr bekannt: Gerhard Müller. Der neue Vorwurf: Die Ärzte haben in ihrem Experiment einen Patienten "geheilt", der gar nicht krank war.

(1) Nature Medicine, Bd.6, S.332, 2000

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