Süddeutsche Zeitung

Der Ethiker:Späte Mutterschaft - ein Glück?

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Der Philosoph Volker Gerhardt klärt die Argumente der Wissenschaftler und Politiker: Was sollen und was dürfen sie verlangen? Diesmal: Philosophische Auskünfte zur späten Geburt

Die Natur ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Noch im vergangenen Jahrhundert hielt man sie für unwandelbar, und wer sich auf sie berief, galt als konservativ. Heute kann man beinahe täglich miterleben, wie die Natur sich ändert, obgleich uns die Physiker weiterhin versichern, dass es Naturkonstanten wie die Lichtgeschwindigkeit, den Isotopenzerfall und die Schwingung des Quarzkristalls gibt. Doch spätestens das Wissen von der Evolution des Lebens macht uns klar, dass auch die Natur eine Geschichte hat. Sie befindet sich in einem unablässigen Wandel. Der Klimawandel ist da nur ein prominentes Beispiel.

Die Veränderungen der Natur reichen aber nicht nur von außen an den Menschen heran. Als Naturwesen nimmt er mit seiner Verfassung an ihnen teil. Kultur und Technik setzen ihn zwar von mancher direkten Einwirkung frei, liefern ihn anderen Umwälzungen aber umso stärker aus. Denn die Zivilisation heizt den Umschwung an.

Das Höchstalter steigt und steigt

Die Rodung der Wälder ist dafür ein schon seit Jahrhunderten bekanntes Beispiel. Hinzu aber kommt, dass der Mensch auch mit dem Menschen experimentiert. Er wendet seine Techniken auf sich selbst an und wird so zum Produkt der eigenen Tätigkeit. Manche Veränderungen am Menschen wie das Größenwachstum oder das steigende Lebensalter können wir mit bloßem Auge erkennen.

Andere, wie die immer weiter hinausgeschobene soziale Reifung, müssen wir uns von Soziologen vorführen und erklären lassen. Wieder andere, die sich aus der frühen Anpassung an die neuen Medien ergeben, können wir derzeit nur erahnen.

Zu den dramatischen Veränderungen gehört die späte Schwangerschaft einer sprunghaft ansteigenden Zahl von Frauen. In den Großstädten wächst der Prozentsatz derer, die bei der Niederkunft älter als 35 Jahre sind. Waren es 1995 in Berlin noch etwa 3 000 Frauen, sind es heute weit mehr als doppelt so viele. Hinzu kommt, dass sich das früher für definitiv gehaltene Höchstalter immer weiter nach oben verschiebt.

Dass Frauen noch mit 45 schwanger werden, ist längst keine Seltenheit mehr, und jene Kuriosität der ersten Mutterschaft einer Spanierin mit 67 steht bestimmt schon im Guinessbuch der Rekorde. Die Gründe für diese Entwicklung liegen auf der Hand: Frauen legen größeren Wert nicht nur auf eine abgeschlossene Ausbildung, sondern auch auf ihren Erfolg im Beruf. Fühlen sie sich darin bestätigt, hat der Kinderwunsch ein ganz anderes Gewicht.

Und er kann sich gerade angesichts einer gefährdeten Partnerschaft steigern, weil man, wie eine jener späten Mütter sagte, nicht mit 50 allein frühstücken möchte. Die Begründung macht deutlich, dass der heute zur moralischen Selbstverständlichkeit gewordene Status der Alleinerziehenden zu den Gründen für diese Entwicklung gehört.

Entscheidend aber sind die Fortschritte in der Medizin, die durch Hormonbehandlung und präzise Diagnostik die späte Geburt berechenbar machen. Gynäkologen versichern, dass eine Schwangerschaft mit 40 heute nicht wesentlich riskanter sei als eine mit 30. Schließlich kommt die höhere Lebenserwartung hinzu, die Menschen länger jung bleiben lässt.

Die Kinder müssen sich, von der Absurdität einer Schwangerschaft mit 67 einmal abgesehen, nicht fühlen, als seien sie von ihren Großeltern geboren worden. Was hat die Ethik dazu zu sagen? Sie hat, ehe sie urteilt, auf den grundlegenden Wandel in Natur und Gesellschaft zu achten. Die Lebensverhältnisse in einer älteren Zeit können und dürfen nicht zur verbindlichen Norm erhoben werden.

Wenn aber die Tradition nicht mehr sicher zu erkennen gibt, was man richtigerweise tun soll, wächst die Verantwortung des Einzelnen. Er hat sich selbst um Informationen zu bemühen, hat frühzeitig den Rat von Medizinern einzuholen und muss seine eigene Lebenslage ernsthaft prüfen. Das Schwerste in dieser gesteigerten Verantwortung für sich selbst aber dürfte sein, das mögliche Glück des möglichen Kindes nicht außer Acht zu lassen.

Vielleicht fragt man sich einfach, ob das Kind mit seiner alleinerziehenden, 50-jährigen Mutter frühstücken möchte. Wenn die Antwort nicht eindeutig ausfällt, sollte man sich zu der Einsicht durchringen, dass man im Leben nicht alles haben kann.

Kinder sind, die Liebe selber nicht gerechnet, der größte Reichtum des Lebens. Aber man kann auch ohne eigene Kinder viel für die Jugend tun.

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Quelle:
SZ Wissen 4/2008
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