Der Ethiker:Sind wir verpflichtet, uns mehr zu bewegen?

Der Philosoph Volker Gerhardt klärt die Argumente der Wissenschaftler und Politiker: Was sollen und was dürfen sie verlangen? Diesmal: Philosophische Auskünfte zu einem sportlichen Thema.

Nach Immanuel Kant ist es Pflicht, sich gesund zu erhalten. Doch im Kanon der ethischen Verbindlichkeiten kommt diese Pflicht nur selten vor. Den Grund führt Kant selber an: weil diese Pflicht ohnehin unserer Neigung entspricht. Jeder weiß, dass es besser ist, gesund als krank zu sein. Es bedarf keiner Ethik, die darlegt, warum es richtig ist, sich um seine Gesundheit zu kümmern. Aber warum halten sich so wenige an das, was das Leben sie lehrt?

Zwar ist es selten, dass einer seine akute Erkrankung nicht beachtet. Schmerz, Schwäche oder Übelkeit lassen sich nur schwer übersehen, sobald sie einmal da sind. Aber die drohende Krankheit ist leicht verdrängt, wenn ein Genuss im Augenblick die nächste Zukunft vergessen lässt. Das kennt jeder, der am Morgen bereut, dass er sich am Abend zuvor hat verführen lassen, auch wenn es nur der Nachtisch oder ein Glas Wein zu viel gewesen ist.

Verführung des Augenblicks

Weniger harmlos ist das chronische Übergewicht in Deutschland: Fast die Hälfte aller Männer sind übergewichtig, mehr als 18 Prozent leiden an Fettleibigkeit. Bei den Frauen liegt die Quote sogar bei mehr als 20 Prozent. Auch wenn es Psychologen gibt, die behaupten, dicke Menschen seien glücklicher, steht außer Zweifel, dass die Gesundheit der Fettleibigen gefährdet ist. Sehen wir von jenen ab, deren Übergewicht selbst krankhafte Ursachen hat; gestehen wir auch sprichwörtlich Dicken zu, dass sie sich in ihrer Haut rundum wohlfühlen: Wie erklärt es sich, dass sie offenbar ein hohes gesundheitliches Risiko auf sich nehmen?

Die Antwort ist einfach, wenngleich sie bei jedem Einzelnen eine besondere biografische oder physiologische Nuance haben dürfte: Der Verführung im Augenblick lässt sich nur schwer widerstehen. Nun ist das starke Übergewicht vieler mit einem hohen Aufwand für die Allgemeinheit verbunden.

Häufig damit einhergehende Erkrankungen des Bewegungsapparats, Bluthochdruck und Diabetes verursachen fast ein Drittel der Kosten im deutschen Gesundheitswesen. Da jedoch jeder weiß, dass er hier eine Schwäche hat, die er selbst missbilligt, bedarf es keiner moralischen Ermahnung.

Besser ist es, über die Ursachen aufzuklären, falsche Ernährung und mangelnde körperliche Auslastung. Aber Informationen helfen nur, wenn es gelingt, sie mit einem Reiz zu verbinden, der zur Gesundheit verführt. Dieser Reiz liegt in der Bewegung. Nichts hat die Evolution der menschlichen Gattung derart gefördert wie ihre Beweglichkeit. Der Frühmensch befreite durch den aufrechten Gang seine Hände, um Werkzeuge zu gebrauchen, zähmte das Feuer, eroberte neue Räume und breitete sich in mehreren Wanderungswellen über die ganze Erde aus.

Stets ging seine physische Beweglichkeit der intellektuellen voraus. Heute hat sich die intellektuelle Mobilität derart verselbstständigt, dass es gar nicht mehr nötig erscheint, sich körperlich zu bewegen. Beim größeren Teil der Ortsveränderungen vertrauen wir uns Maschinen an, die Arbeit wird weitgehend stationär erbracht, und am Körper scheint nur noch zu interessieren, dass er in berechenbarer Weise reagiert.

Arbeit wird zum Spiel

Die "Körperausschaltung", mit der die Anthropologen die Entstehung der Intelligenz erklären, geht inzwischen so weit, dass einigen der menschliche Leib sogar entbehrlich erscheint. Doch wie immer dem auch sei: Im kollektiven Gedächtnis der Menschheit lebt die Erinnerung an den evolutionären Gewinn fort, den ihr die freie Bewegung im Raum gebracht hat. Deshalb wird die pure Ausübung der Bewegung nicht nur im Laufen oder Schwimmen als lustvoll erfahren. In ihr lässt sich sogar die Anstrengung genießen.

Was normalerweise Arbeit ist, wird zum Spiel. Die Bewegung setzt produktive Kräfte frei, die den bloßen Konsum vergessen lassen. Freilich: Eine ethische Pflicht braucht man aus der Bewegung nicht zu machen. Es genügt völlig, wenn sie den Menschen dazu verführt, sich dem Vollzug seines Körpers hinzugeben. In ihr kann er den Augenblick genießen, ohne sich die Zukunft zu verstellen, und kann auf einfache Weise erfahren, dass sein Körper unverzichtbar ist. Intellektuelle Fähigkeiten sind bedeutungslos, wenn sie nicht Ausdruck einer körperlichen Bewegung sind. Auch deshalb ist es so Erfolg versprechend, den Körper gegen sein eigenes Übergewicht antreten zu lassen.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: