Der Ethiker:Müssen wir unsere Verwandten lieben?

Der Philosoph Volker Gerhardt klärt die Argumente der Wissenschaftler und Politiker: Was sollen und was dürfen sie verlangen? Diesmal: Philosophische Auskünfte zu einem häuslichen Dilemma.

"Wer seinen Vater schlägt", so sagt ein antiker Denker, "der verdient Schläge, aber keine Argumente". Das ist kein Votum für die Prügelstrafe, sondern ein Hinweis auf eine Bedingung vernünftiger Argumentation: Wem man erst erklären muss, warum er den eigenen Vater oder die eigene Mutter nicht misshandeln darf, der versteht die einfachsten Dinge nicht. Was könnte es dann geben, das ihn dieses Gebot verstehen ließe? Wer nicht weiß, dass Schmerzen wehtun, dem kann man auch nicht beibringen, dass er andere nicht quälen soll.

Der Ethiker: Die Windsors, eine typische Familie. Zu- und Abneigung sind höchst ungleich verteilt.

Die Windsors, eine typische Familie. Zu- und Abneigung sind höchst ungleich verteilt.

(Foto: Foto: dpa)

Es gibt Selbstverständlichkeiten, die jeder Einsicht zugrunde liegen. Man muss sie kennen, wenn man überhaupt etwas wissen will. Zu diesen Selbstverständlichkeiten gehört, dass man Vater und Mutter ehrt. Sie sind uns allein durch unsere leibliche Herkunft so nahe, dass es einer Selbstmisshandlung gleichkäme, wollte man ihnen absichtlich wehtun.

Sie sind, so antiquiert es auch klingen mag: Fleisch vom eigenen Fleisch. Daran haben selbst die technischen Innovationen nichts geändert.

Kinder, die ihr Leben einer In-vitro-Fertilisation verdanken, sind ihren Eltern nicht weniger verbunden als andere, die unter glücklicheren Umständen entstehen konnten. Wer Vater und Mutter hat, die ihn gezeugt und geboren haben, der bleibt ihnen eng verbunden. Seine Selbstachtung gebietet ihm, ihnen die Achtung nicht zu versagen.

Nun weiß man, dass es zwischen nächsten Verwandten nicht immer friedlich zugeht. Die elterliche Macht, die sich im Lauf der Erziehung in Autorität verwandeln sollte, widerspricht dem Freiheitsanspruch der Kinder.

Hier gibt es einen existenziellen Gegensatz, der zu schweren Verwerfungen führt, wenn weder Klugheit noch Liebe in der Lage sind, dem anderen sein eigenes Leben zuzugestehen. Hinzu kommt, dass schon die bloße Tatsache unausweichlicher räumlicher Nähe größte Konflikte erzeugen kann. Die Kriminalstatistik lässt daran keinen Zweifel.

Wer vergisst, dass die Welt auch aus Gutem bestehen kann, dem muss die Familie als Brutstätte der Gewalt erscheinen. Die Unzahl von Kindesmisshandlungen zeigt überdies, dass nicht wenige Eltern ihren Anspruch, von ihren Kindern auch nur geachtet zu werden, selbst verspielen.

Und trotzdem gilt, dass die enge verwandtschaftliche Bindung zur verlässlichsten Sozialbeziehung überhaupt gehört. Hier kann man andere Statistiken zurate ziehen: Die Versicherungen wissen, dass bei Schadens- fällen die größte Hilfsbereitschaft zwischen Familienangehörigen besteht. Bei Feuer, Überschwemmung oder tätlicher Gewalt riskieren Eltern ihr Leben ungleich häufiger für ihre Kinder als für Freunde, Nachbarn oder Fremde.

Dies gebietet in Einzelfällen sogar das Gesetz. Wenn es um spontane, das eigene Leben gefährdende Hilfe geht, erweisen sich Familienbande als der stärkste soziale Zusammenhalt.

Müssen wir unsere Verwandten lieben?

Man hat dies seit jeher moralisch und rechtlich anerkannt. Denn es wäre ein schweres Missverständnis des humanitären Gleichheitspostulats, wollte man es mit einem Tabu der familiären Nächstenliebe verknüpfen. Die Kinder der Freunde und der Nachbarn können und sollen einem lieb und teuer sein; aber sie für genauso wichtig zu halten wie das eigene Kind, verkehrt die menschlichen Verhältnisse in ihr Gegenteil.

Der Ethiker: Philosoph Volker Gerhardt - der Ethiker.

Philosoph Volker Gerhardt - der Ethiker.

Die eigenen Kinder, die eigenen Eltern und die eigenen Geschwister nicht vorziehen zu dürfen, würde bedeuten, dass man sich selber weniger wichtig nimmt als andere. Damit wäre jeder Appell an die eigene Leistung, jeder Anspruch, ein Versprechen zu halten, und jede Rede von Verantwortung gegenstandslos.

Sogar das christliche Gebot der Nächstenliebe würde seinen Wert verlieren. Denn es setzt die natürliche Selbstliebe des Menschen und seine Liebe zu denen voraus, die ihm am nächsten sind. Nur unter dieser Bedingung kann man hoffen, dass sich ein Mensch nicht auf seinen kleinen Lebensbezirk beschränkt und sein Herz für Fremde öffnet.

Heißt das aber, dass man seine Verwandten "lieben" muss? Keineswegs. Niemand kann zur Liebe genötigt werden. Sie ist ein Glück, ein Geschenk, das nicht erzwungen werden kann. Wem daher das "Fest der Liebe" nur die Pflicht aufbürdet, einmal wieder nach Hause zu fahren, der sollte sich prüfen und fragen, ob er nicht doch auch eigene Gründe zum Besuch bei den Verwandten hat. Wenn nicht, ist es besser, allein, mit Freunden oder gar nicht zu feiern.

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