Demenzpatienten mit Laufdrang:Verwirrt und verirrt

Per Ortungssystem will eine Klinik Demenzkranke vom Weglaufen abhalten. Doch die Maßnahme ist umstritten - denn schon atmosphärische Verbesserungen bremsen die Patienten.

Marc Widmann

Die alte Dame verschwand kurz vor dem Frühstück. Völlig unbemerkt verließ sie am Sonntagmorgen ihr Zimmer in der Offenbacher Klinik, 15 Polizisten konnten sie in dem großen Gebäude und der Umgebung nicht finden, auch nicht der Hubschrauber mit Wärmebildkamera.

Demenz, dpa

Geborgenheit statt Funk-Armband: Um Demente vom Weglaufen abzuhalten, muss nicht gleich auf technische Lösungen zurückgegriffen werden.

(Foto: Foto: dpa)

Erst am nächsten Tag wurde sie tot entdeckt: 13 Stockwerke tiefer, im hintersten Winkel des Kellers war die 93-Jährige in einen Schacht gefallen. Dort, wo nie jemand ist. "Überwiegend verwirrt" sei die alte Frau gewesen, sagte ein Arzt danach. Sie war nicht die erste Demenzpatientin, die sich in einer deutschen Klinik verirrte und dabei ums Leben kam.

Allein in Berlin gab es in den vergangenen Jahren zwei ganz ähnliche Fälle. Ein 63-Jähriger wurde nach sechs Tagen tot in einem Technikraum gefunden. Ein 86-Jähriger starb unter einer Treppe im Krankenhauskeller.

"Ich will, dass solche Dinge nie mehr passieren", sagt Hans-Ulrich Schmidt. Deshalb startet der Geschäftsführer des Offenbacher Klinikums am nächsten Dienstag ein Experiment: ein Ortungssystem für Patienten. Sie bekommen Funk-Armbänder umgelegt. Die meisten Kranken können darauf nur lesen, wann ihre Untersuchung fällig ist.

Bei Dementen dagegen schlägt das Band über das drahtlose Computernetz auch Alarm, sobald sie den als erlaubt programmierten Bereich verlassen. Am PC können die Pfleger jederzeit nachschauen, wo sich der Armbandträger gerade aufhält. "Das hätte den Unfall mit Sicherheit verhindert", sagt Schmidt.

Hätte es? Mehrere Firmen bieten solche Systeme bereits an, aber unumstritten sind sie nicht. "Wie wählt das Krankenhaus aus, wer markiert wird", fragt sich zum Beispiel die Vorsitzende der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft, Heike von Lützau-Hohlbein.

Lange Flure, sterile Atmosphäre

"Ich sehe das Heil nicht in einer technischen Lösung", sagt sie. Einige Angehörige, die solchen Maßnahmen erst zustimmen müssen, betrachten sie noch kritischer: Darf man Menschen überhaupt kennzeichnen?

Laut einer Studie sind bereits zwölf Prozent der Patienten in deutschen Kliniken dement. Mit steigender Tendenz. Vielerorts werden sie jedoch vor allem als Störfaktor gesehen, der den reibungslosen Ablauf behindert. Dabei macht die Hektik des Klinikalltags Verwirrte oft noch verwirrter. Die langen Flure, die sterile Atmosphäre, die Eintönigkeit lösen aus, was Experten Lauftendenz nennen.

Schon mit wenig Mitteln könnten Kliniken vieles verbessern, sagt Sabine Kirchen-Peters vom Saarbrücker Iso-Institut. Einige Häuser richten auf den Fluren gemütliche Sitzgruppen ein, die als "Haltestellen" für fluchtwillige Patienten dienen.

Manche erlauben es den Angehörigen, ebenfalls in der Klinik zu schlafen. In Kaufbeuren stehen Experten bereit, wenn auf einer Station ein dementer Patient liegt. Denn die Mitarbeiter sind mit der Situation oft überfordert, ihnen fehlt meist schon die Zeit.

Im Kölner Krankenhaus St. Hildegardis gibt es nun sogar rote Klodeckel. Eine Signalfarbe, wie sie auch Demente noch wahrnehmen. Seit Oktober werden verwirrte Patienten hier auf einer besonderen Station versorgt, von eigens geschultem Personal.

Ein einfacher Vorhang verbirgt die Tür zum Treppenhaus, damit die Patienten sie nicht im Blick haben. Vor den Betten liegen Matten, die Alarm geben, wenn nachts jemand auf sie tritt. Noch ist die Station ganz neu, aber ein Ergebnis kann Projektleiterin Ursula Sottong schon nennen: "Wenn sich die Patienten geborgen fühlen, haben sie keine Lauftendenz mehr."

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