Peter Higgs wischte sich eine Träne aus dem Auge, als die Vorträge über die Entdeckung eines bislang unbekannten Bosons am Cern beendet waren. "Wir haben etwas beobachtet, dass mit der Existenz eines Higgs-Bosons übereinstimmt", hatte der Generaldirektor des Cern, Rolf-Dieter Heuer, die Erkenntnisse der Wissenschaftler zusammengefasst.
Damit hat sich eine Voraussage des britischen Forschers Higgs erfüllt: 1964 hatten er und zeitgleich die belgischen Forscher François Englert und Robert Brout einen Mechanismus vorgestellt, mit dem sie erklären wollten, woher die Materie ihre Masse hat. Das Standardmodell der Physik hatte an dieser Stelle bislang gepasst. Der Mechanismus setzte allerdings auch die Existenz eines besonderen Partikels voraus: das sogenannte Higgs-Boson. Und bis jetzt war es den Physikern nicht gelungen, es aufzuspüren. "Als Laie", erklärt Heuer am Vormittag, "würde ich jetzt sagen, ich denke, wir haben es."
"Ich habe nie erwartet, dass das noch zu meinen Lebzeiten passiert", sagt 83-jährige Higgs nun. "Ich bin verblüfft, mit welcher Geschwindigkeit die Ergebnisse zustande kamen." Er werde seine Familie bitten, Champagner in den Kühlschrank zu stellen.
Am Forschungszentrum überschlägt man sich schier vor Begeisterung: Von einem "historischen Meilenstein in unserem Verständnis von der Natur" spricht Heuer, räumt aber sofort ein, man stünde erst am Anfang.
"Was sich hier anbahnt, ist für mich bisher die Entdeckung des Jahrhunderts", schwärmt auch Joachim Mnich, Forschungsdirektor des Deutschen Elektronen-Synchrotrons Desy in Hamburg, der auch am Cern arbeitet. "Am deutlichsten überzeugt mich, dass wir in den zwei unabhängigen Datensätzen aus dem letzten und aus diesem Jahr das gleiche Signal sehen, und das konsistent in beiden Experimenten, Atlas und CMS."
Und der Cern-Physiker Yves Sirois stellte fest: "Es könnte das Higgs-Boson sein, das wir gefunden haben, was ein Licht darauf werfen würde, wie gleich zu Beginn des Universums Materie entstehen konnte."
"Ich bin noch nicht fertig"
Sean Carroll vom California Institute of Technology sagte dem britischen Guardian, "es ist klar, dass das LHC einen neuen Partikel aufgespürt hat. Sehr wahrscheinlich ist es das Higgs-Boson des Standardmodells". Es gebe jedoch interessante Unterschiede, die möglicherweise von Wechselwirkungen mit anderen neuen Partikeln herrühren. "Der Spaß hat gerade erst begonnen."
Ähnlich hatte sich auch Fabiola Gianotti ausgedrückt. Die Physikern hatte die sensationellen Ergebnisse des Atlas-Experiments vorgestellt, die gemeinsam mit den Daten des CMS-Versuchs die Existenz des neuen Bosons bestätigten. "Warum applaudiert ihr?", hatte sie das Publikum gefragt, als diese während ihres Vortrags klatschten. "Ich bin noch nicht fertig. Das ist erst der Anfang."
Bei aller Euphorie bleiben die Forscher jedoch immer ein wenig zurückhaltend. "Jetzt müssen wir herausfinden, ob es sich bei dem neuen Teilchen tatsächlich um den noch fehlenden Baustein des Standardmodells handelt", sagt etwa Achim Stahl von der RWTH Aachen, der auch deutscher Sprecher des CMS-Experiments am Cern ist. "Es könnte auch ein Higgs-Teilchen sein, dass nicht ins Standardmodell passt, oder etwas gänzlich Unerwartetes." Aber so oder so - es seien große Entdeckungen, "nicht nur für die Teilchenphysik."
Ähnlich kommentierte Neal Weiner von der New York University die Entdeckung. "Wenn das Boson nicht standardmäßig reagiert, dann bedeutet das, es steckt mehr in der Geschichte - mehr Partikel, vielleicht mehr Kräfte, die hinter der nächsten Ecke warten", stellte er in einer E-Mail an die New York Times fest.
Die Präsidentin der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, Johanna Stachel, verwies auf die Bedeutung von Kooperationen in der Forschung: "Der experimentelle Nachweis des Higgs-Teilchens zeigt, dass die schwierigsten Probleme nur dann gelöst werden können, wenn es eine weltweite Zusammenarbeit ohne politische Zwänge und Vorgaben gibt."
Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU) bezeichnet den Nachweis des neuen Elementarteilchens als "wissenschaftliche Sensation". Sie gratulierte den Wissenschaftlern in Genf: "Die Suche nach dem Higgs-Teilchen hat nun fast 50 Jahre gedauert, aber nun könnte die Entdeckung gelungen sein. Die Ausdauer und Neugier der Wissenschaftler wurde belohnt."
Schavan verwies darauf, dass deutsche Forscher einen maßgeblichen Anteil an der Entdeckung des Teilchens hatten. In den vergangenen 15 Jahren habe ihr Ministerium deutsche Hochschulen für ihre Arbeit am Teilchenbeschleuniger des Cern mit insgesamt 175 Millionen Euro gefördert. Zudem trage Deutschland derzeit mit jährlich rund 180 Millionen Euro etwa 20 Prozent der Mitgliedsbeiträge des Cern-Haushaltes. Die Bundesrepublik sei damit der größte Förderer, betonte Schavan.
Insgesamt arbeiten Forschergruppen an 15 deutschen Universitäten, dem Max-Planck-Institut für Physik in München und den beiden Helmholtz-Forschungszentren Desy und Kit gemeinsam an den Experimenten. Nach Desy-Angaben sind mehr als 700 deutsche Wissenschaftler an den beiden Experimenten Atlas und CMS beteiligt, mit denen nun die Existenz des neuen Bosons nachgewiesen wurde.