Süddeutsche Zeitung

Deichbau:Die Natur als Bollwerk gegen die Wassermassen

  • Über Jahrzehnte war die "Deichverteidigung" mit Beton, Sand und Stahl an der Nordsee das Maß aller Dinge. Das ändert sich nun.
  • Das große Umdenken begann nach dem Tsunami 2004 im Indischen Ozean.
  • Neue Forschungsprojekte widmen sich dem sogenannten "ökosystembasierten Küstenschutz."

Von Tim Schröder

Die meisten Menschen schliefen, als die Deiche brachen. Am 16. November 1962 hatte der Nordwestorkan über der Nordsee das Wasser viele Stunden lang in die Elbe gepresst und immer höher steigen lassen. Doch niemand hatte erkannt, welche Gefahr auf Hamburg zurollte. Die Behörden hatten keine Katastrophenmeldung gegeben - nichts.

Jetzt drückten die Wassermassen mit Macht in den Hamburger Hafen, bis schließlich gegen Mitternacht die altersschwachen Deiche an 60 Stellen brachen - in Allermöhe, in Billwerder, in Wilhelmsburg und in den anderen Stadtteilen unten an der Elbe. Das Wasser strömte durch die Straßen, flutete ganze Wohngebiete. In wenigen Stunden stand ein Sechstel der Stadt unter Wasser. Mehr als 300 Menschen ertranken, viele in ihren Häusern.

Die Sturmflut von 1962 versetzte Norddeutschland einen Schock. Eilends begann man Küstenschutzpläne auszuarbeiten. Die deutsche Nordseeküste sollte endlich und für alle Zeiten sicher gegen Orkan und Welle sein. Getreu dem alten plattdeutschen Motto "De nich will dieken, mutt wieken" - "Wer nicht deichen will, muss weichen" - verbaute man die Küste. Man flickte und erhöhte die Deiche und riegelte Buchten und Flussmündungen mit Dämmen ab, damit sich darin bei Sturmflut kein Wasser mehr staute.

Für Jahrzehnte blieb die "Deichverteidigung" mit Beton, Sand und Stahl an der Nordsee das Maß aller Dinge, nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Niederlanden, die bereits 1953 eine Flutkatastrophe erlebt hatten, bei der mehr als 1800 Menschen ertrunken waren. Mit riesigen Dämmen und Sperrwerken trennte man dort große Gebiete in den verzweigten Mündungen von Rhein und Schelde von der Nordsee ab. "Etwas anderes als dieser harte ingenieursmäßige Küstenschutz, der Kampf des Menschen gegen die Natur, war lange Zeit gar nicht denkbar", sagt Stijn Temmerman von der Universität Antwerpen.

"Beim Schutz vor dem Meer wollte man auf Nummer sicher gehen und hat entsprechend groß gebaut - übrigens nicht nur an der Nordsee, sondern eigentlich weltweit an vielen Küsten." Der Geograf Stijn Temmerman ist Experte für Flussmündungen und kennt sich aus mit dem Auf und Ab der Gezeiten, den Strömungen und dem Transport von Sand und Schlick. "Dabei hat man völlig übersehen, dass es auch eine Art natürlichen Küstenschutz gibt - und dass sich manche Küste besser schützen lässt, wenn man nicht gegen die Natur kämpft, sondern sie für sich nutzt."

Das große Umdenken begann erst nach dem Tsunami 2004 im Indischen Ozean und nach dem Hurrikan Katrina, der 2005 Teile der US-Küste am Golf von Mexiko verwüstete und New Orleans überflutete. An vielen Küstenstreifen, die durch Korallen, Mangroven, Salzwiesen oder weite Sandbänke geschützt waren, hielten sich die Schäden hingegen in Grenzen. Wie sich zeigte, hatten die natürlichen Bollwerke den Tsunami und die von Katrina aufgewühlten Wassermassen abbremsen können. "Danach schoss die Zahl der wissenschaftlichen Arbeiten zur Schutzwirkung von Korallen, Mangroven oder auch von Salzwiesen in die Höhe", erinnert sich Temmerman. "Erfreulicherweise gibt es inzwischen weltweit viele Projekte, bei denen man sich von der Natur helfen lässt.

Wir nennen das ökosystembasierten Küstenschutz." Vor allem an der Küste des US-Bundesstaates Louisiana, die 2005 von Katrina voll erwischt worden war, hat man bereits umgedacht. Brennpunkt ist hier das breite Mündungsgebiet, das Delta des Mississippi. Früher transportierte der Fluss Unmengen von Sediment ins Delta. Daraus bildeten sich Sandbänke und weite Salzwiesen, die bei Hurrikans die Brandung bremsten. Doch längst hat man den Fluss mit zahlreichen Staustufen gezähmt und den Sedimenttransport unterbrochen. Das Delta wächst nicht mehr. Das Meer trägt den Sand fort. Sandbänke und Salzwiesen schrumpfen.

Baggerschiffe saugen Sand aus dem Mississippi und pumpen ihn in eine 20 Kilometer lange Pipeline

Wie die Sturmflut von 1962 für Norddeutschland war Katrina für die Behörden von Louisiana ein Schock. Nur zwei Jahre später brachte man dort den Louisiana Coastal Protection Plan auf den Weg - ein Mega-Vorhaben mit gut 100 Projekten, mit denen die Küste gegen künftige Hurrikans stark gemacht werden soll - mit neuen Dämmen und verstärkten Deichen, vor allem aber auch, indem man das Delta wieder wachsen lässt. So ist seit 2013 eine mehr als 20 Kilometer lange Pipeline in Betrieb, die Sand ins Delta spült. Baggerschiffe saugen den Sand aus dem Mississippi und pumpen ihn in die Röhre. Neue Sandbänke und Marschen sollen anwachsen und künftig die Orte südlich von New Orleans schützen.

"Solche Maßnahmen haben einen großen Vorteil gegenüber starren Küstenschutzanlagen", sagt Stijn Temmerman. "Sie können mit dem Meeresspiegelanstieg mitwachsen. Wir nennen das adaptiven Küstenschutz - Küstenschutz, der sich anpasst." Ein großes Sperrwerk, das bei Sturmfluten eine Flussmündung abriegelt, müsse man hingegen komplett neu bauen, wenn es aufgrund des künftig steigenden Meeresspiegels keinen ausreichenden Schutz mehr böte. Damit wäre die anfängliche Investition verloren.

Mit dem adaptiven Ansatz steht der Küstenschutz heute vor einem Paradigmenwechsel. Galt bislang die Devise, eine Küstenlinie allein durch große, starre Bauwerke zu halten, kommt jetzt ein ganzes Bündel weicher, natürlicher Maßnahmen hinzu. Und tatsächlich ist dieser Paradigmenwechsel möglich. Wie das geht, zeigen Küstenschutzingenieure in Belgien und in den Niederlanden. Dort wagt man seit einigen Jahren das lange Zeit Undenkbare: Deiche werden abgerissen und weiter ins Land zurückverlegt, um große Überschwemmungsflächen zu schaffen, die überspült werden können.

Dadurch verliert die Hochwasserwelle bei Sturmflut an Höhe. Der Druck auf die Deiche nimmt ab. Schöner Nebeneffekt: In den überfluteten Gebieten entwickeln sich Feuchtwiesen, in denen seltene Vogelarten brüten. "Das ist das Geniale am ökosystembasierten Küstenschutz", sagt Temmerman. "Er hat einen doppelten Nutzen. Dämme, Deiche und Sperrwerke hingegen wirken wie Fremdkörper, die die Landschaft einfach nur zerschneiden."

Auch in den Niederlanden baut man aktuell an vielen Flüssen Überflutungsflächen - etwa im Projekt "Ruimte voor de rivier" - Raum für den Fluss. Damit will man vor allem Platz für Binnenhochwasser schaffen, das bei Starkregen über den Rhein und andere große Flüsse in die Niederlande drängt. Auch hier hat man den Doppelnutzen im Blick - das Binnenland zu schützen und neue Natur- und Erholungsgebiete zu schaffen. Überhaupt sind die Küstenschutzingenieure in den Niederlanden inzwischen ausgesprochen kreativ darin, multifunktionale Küstenschutzbauten zu erfinden. Die Stadt Katwijk aan Zee etwa hat zwischen dem Strand und der Küstenstraße ein flaches Parkhaus mit 660 Plätzen gebaut und dieses anschließend mit Sand abdecken und bepflanzen lassen. Damit ist eine neue Schutzdüne entstanden, die perfekt in die Nordseelandschaft passt.

"Man muss ein wenig kreativ sein, um neue, ergänzende Küstenschutzlösungen zu entwickeln", sagt Torsten Schlurmann, Leiter des Ludwig-Franzius-Instituts für Wasserbau, Ästuar- und Küsteningenieurwesen an der Universität Hannover. "Tatsächlich bewegt sich das Küsteningenieurwesen seit einigen Jahren auch in Deutschland in die neue Richtung - der ökosystembasierte Ansatz ist auch in der Lehre angekommen. Die Studenten lernen, in diese Richtung zu denken. Das ist wichtig." Dafür sind die Projekte, die Torsten Schlurmann so anschiebt, das beste Beispiel.

"Der klassische Küstenschutz hat sich in Jahrzehnten bewährt"

Auf Bali vergleichen seine Studenten gerade die Widerstandsfähigkeit und Haltbarkeit einer klassischen Brandungsmauer aus Beton mit einem Ökodeich aus Bambuspfählen und Kokosfasermatten. An vielen Stellen auf Bali führen die Betonmauern dazu, dass die Brecher den Strand aushöhlen. Auf dem Ökodeich sollen die Wellen künftig sanft ausrollen. Und es steckt noch mehr dahinter. Für den Bau von Betonmauern müssen die Behörden Arbeiter und Material für viel Geld per Schiff nach Bali holen. Bambus und Kokosfasern gibt es vor Ort zuhauf. Erweist sich der Ökodeich als robust, könnten die Einheimischen den Küstenschutz künftig selbst in die Hand nehmen.

Nicht nur auf Bali, sondern weltweit wird man solche ökosystembasierten Maßnahmen aber nur akzeptieren, wenn sich nachweisen lässt, dass die Sache im Ernstfall hält. "Der klassische Küstenschutz hat sich in Jahrzehnten bewährt", sagt Torsten Schlurmann. "Was die Alternativen bringen, müssen wir erst noch mit wissenschaftlichen Methoden herausfinden." Das will er zusammen mit Kollegen von anderen Hochschulen, beispielsweise im Projekt "SeaArt", in dem die Forscher untersuchen, wie wichtig Seegras für den Küstenschutz ist.

Seegras ist eine der ganz wenigen Wasserpflanzen im Meer, die Wurzeln bilden. Sie wächst im lichtdurchfluteten Wasser in Strandnähe und kann kilometerweit den sandigen Meeresboden bedecken. "Wir wissen bereits heute, dass diese Seegraswiesen eine erste wichtige Verteidigungslinie sind, die bei Sturm die Brandung dämpft; noch vor den Korallen oder Mangroven, die ja nahe am Ufer wachsen", sagt Raúl Villanueva, Doktorand bei Torsten Schlurmann. "Doch wie stark dieser Effekt ist und wie er genau funktioniert, wissen wir noch nicht."

Matten aus biologisch abbaubarem Kunststoff sollen Seegras-Keimlingen künftig Schutz bieten

Raúl Villanueva hat deshalb eine kleine Messstation gebaut, in der Ultraschallsensoren die Geschwindigkeit der Wellen über den Seegraswiesen messen können. "Das Seegras ist für uns ein so wichtiges Thema, weil es vielerorts durch die Verschmutzung und Trübung der Küstengewässer abstirbt. Wir wollen herausfinden, was das für den Küstenschutz bedeutet." Und nicht nur das: Im SeaArt-Projekt arbeiten die Forscher außerdem an einem Konzept, um zerstörte Seegraswiesen wieder aufzuforsten.

Das Problem: Ist das Seegras erst einmal verschwunden, finden neue Keimlinge keinen Schutz vor der Strömung und keinen Halt mehr. Das SeaArt-Team entwickelt deshalb künstliche Seegrasmatten aus biologisch abbaubarem Kunststoff - eine Art Fransenteppich für den Meeresboden, der Keimlingen künftig Schutz bieten soll.

Während das Seegras eine natürliche Verteidigungslinie gegen Sturmfluten ist, sind Deiche mächtige künstliche Bauten. Zwar sind sie begrünt, doch letztlich eine lineare Monokultur. Doch das könnte sich in naher Zukunft ändern. Mit dem Projekt "Ecodike" wollen die Hannoveraner zusammen mit Forschern von anderen Universitäten und Instituten die vielen Hundert Kilometer monotoner Deichlinie an der deutschen Nordseeküste in ein bunt blühendes Band verwandeln - in einen Deich mit ökosystembasiertem Anstrich sozusagen. "Die Saatmischungen, mit denen man heute Deiche begrünt, enthalten gerade einmal vier verschiedene Gräser und Kräuter", sagt der Doktorand Jochen Michalzik.

"Diese Pflanzen lassen sich raspelkurz halten, vertragen den Tritt der Schafe, Überflutungen und das Salzwasser; einen eigentlichen ökologischen Nutzen haben sie aber nicht." Für Insekten wären Mischungen mit stark blühenden Kräutern interessanter, doch bislang weiß keiner, ob diese die harten Lebensbedingungen auf dem Deich überstehen. Gut denkbar, dass manche neue Pflanzenart den Deich durch tiefere Wurzeln zusätzlich stabilisiert.

Um Antworten zu finden, hat Torsten Schlurmann am Stadtrand von Hannover ein Wellenbecken unter freiem Himmel bauen und darin einen Deich in Lebensgröße aufschütten lassen - aus Sand und Klei, ganz so wie in der norddeutschen Marsch. Jochen Michalzik wird darauf im Frühjahr verschiedene Saatmischungen säen - mit bis zu 20 verschiedenen Pflanzenarten. Eine Wellenmaschine wird das Wasser im Becken regelmäßig zu großen Brechern aufschaukeln, den Deich fluten und die Pflanzen unter Stress setzen. Zudem wird Michalzik den Deich hin und wieder salzen. "Wir hoffen, eine Saatmischung zu finden, die besonders artenreich und robust ist", sagt er.

"Building with nature", mit der Natur bauen und nicht gegen sie, das sollte das künftige Ziel des Küstenschutzes sein, sagt Torsten Schlurmann. "Ganz ohne harten Küstenschutz wird es allerdings nicht gehen. Wir können ja nicht sämtliche Deiche abreißen - vielmehr geht es um eine kluge, ausgewogene Kombination von weichem und hartem klassischen Küstenschutz." Und da gebe es erfreuliche Beispiele - zum Beispiel den "Mudmotor" in den Niederlanden, das pfiffige Verklappen von Hafenschlick vor der nordholländischen Stadt Harlingen. Baggerschiffe müssen regelmäßig die Fahrrinne von Schlick befreien, den sie dann weiter draußen vor der Küste deponieren. Trotzdem schlickt die Rinne immer wieder zu - teils mit dem Material, das die Schiffe erst kurz zuvor ausgebaggert haben.

Seit Kurzem geht es anders. Ingenieure haben die Strömungen in den Küstengewässern genau vermessen - und den idealen Ort für das Verklappen gefunden. Von dort aus treibt das feine Sediment jetzt ein Stück die Küste entlang und bildet langsam eine neue Sandbank, die sich zu einer Salzwiese entwickeln wird. "Und ganz nebenbei schützt sie die Küste. Das ist für mich eine perfekte Kombination", sagt Torsten Schlurmann. "Für mich ist so etwas die Zukunft des Küstenschutzes."

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Quelle:
SZ vom 05.01.2018/fehu
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