Es ist für Modelleisenbahner ein Paradies auf Erden, das sich hinter der weißen Flügeltür zu Kellersaal 003 verbirgt. Auf vier Etagen mäandern schmale Schienen auf einem 20 Meter langen Tisch. Die Züge rollen hin, her und nochmals zurück. Oben parkt ein Güterzug mit silbergrauen Tankwagen, zwei Ebenen tiefer rauscht ein ICE um die Kurve. 1200 Meter Mini-Strecke - exakt vermessen, fest verschraubt, digital gesteuert und eingerahmt von originalgroßem Gerät: Neben dem Treppenabgang ragt ein Mast mit rot-weißen Signalflügeln bis unter die Decke, hinten rechts stehen 16 armlange Schalthebel eines hundert Jahre alten Stellwerks. Der Geruch betört, der Besucher riecht Bahnhof. "Das ist das Schmieröl", sagt Jürgen Jacobs und grinst, "ich merke das gar nicht mehr."
Der 53-jährige Wissenschaftler ist der Chef im Souterrain des Verkehrswissen-schaftlichen Instituts der RWTH, der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen. Genauer: Jacobs ist "Laborchef". Denn genau das, ein Laboratorium, ist diese Mega-Minibahn, deren sperriger Name jedem Besucher klarmacht, dass er hier unten keine Hobby-Werkstatt betreten hat: "Eisenbahntechnische Lehr- und Versuchsanlage" (kurz ELVA) steht über dem Türrahmen. Die Schienen und die Züge, die unterm Gleiswerk verbauten Sensoren und die Computermonitore vorn rechts in der Ecke - alles ist neu. Drei Jahre haben Jacobs und ein Dutzend Master-Studenten an der Sanierung und Modernisierung von ELVA gearbeitet. Nun endlich, an diesem Dienstag, wird ihre 750 000 Euro teure Installation feierlich eingeweiht.
Für nostalgische Spielereien, für Schnickschnack ist hier kein Platz. ELVA kommt ohne modellierte Landschaften, ohne Bahnhofshäuschen oder Plastik-Männchen aus. Um den neuen Bahnhof von M-Dorf wenigstens anzudeuten, werde man demnächst vielleicht etwas graue Farbe aufs dunkle Metall malen, "das reicht uns."
Keine Zeit, es drängt die Mission. Denn in der Wirklichkeit, bei der realen, der großen Bahn, brennt die Luft: Zu wenig Personal, zu viele Passagiere, und täglich Pannen, Verspätungen, Zugausfälle. Da soll, da muss die ELVA helfen. "Diese Anlage ist nicht für Liebhaber, sondern für Techniker gebaut", sagt Nils Nießen, der Leiter des Verkehrswissenschaftlichen Instituts. "Als Bahnkunde leidet man durchaus mit", räumt der 44-jährige Professor ein, "das System ist zu voll, zu überlastet." Nießen und seine Kollegen wollen drinnen im Keller nach Auswegen für draußen suchen - mit Lehre und Forschung, mit Simulationen und Experimenten.
Die kleinen Züge fahren nach reellen Fahrplänen. Was passiert im System, wenn einer bummelt?
Dabei dient die Aachener Modellbahn als dreispuriger Schienenweg der Erkenntnis. Erstens erlernen Master-Studierende an der ELVA sehr dingfest die Grundlagen aller Eisenbahn-Sicherungstechnik: An den alten mechanischen Stellwerks-Hebeln müssen sie per Hand und strikt nach Betriebsvorschrift die Seilschaltungen für Weichen und Signale bedienen.
Es folgen Trockenübungen mit elektro-mechanischer und mit Relais-Steuerung. Das sei, so sagt Laborleiter Jacobs, "eine wichtige Praxisübung", denn die Bahn nutze noch heute all diese Generationen der Sicherungstechnik. Erst nach diesen Lektionen kommt der Student im 21. Jahrhundert an, darf er Platz nehmen vor den vier Monitoren in der Ecke: Im modernsten Bahnhof der ELVA - in E-City - genügen drei Mausklicks, um Weichen zu stellen und Fahrwege elektronisch freizuschalten.
Nach der Lehre kommt die Forschung. Institutschef Niels Nießen etwa will mithilfe der Modellbahn ergründen, wann und warum die Züge der DB so häufig aus dem Takt kommen. Für das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt wird der ELVA-Rechner nach realen Fahrplänen programmiert - und dann mit einem externen Impuls verwirrt: Nießen wird eine Panne vortäuschen oder einen Zug bummeln lassen. "Das ist unsere sogenannte Ur-Verspätung, und wir testen dann, welche Folgeverspätungen dies dann per Domino-Effekt auslöst", erläutert er. Dazu arbeitet Nießen mit Algorithmen, und er will vor allem herausfinden, ob und gemäß welcher Formeln es dem Programm selbstregulierend am schnellsten gelingt, den Bahnbetrieb wieder verspätungsfrei ins Gleichgewicht zu bekommen.
In der DB-Wirklichkeit mühen sich an dieser Herausforderung alltäglich soge-nannte Disponenten in den Betriebszentralen der Bahn ab. Nießen ist überzeugt, dass der Computer dem Menschen längst überlegen ist. "Je komplexer die Problemlage, desto eher sollten wir den PC entscheiden lassen", lautet des Professors Faustregel.
Nur, in der Realität - auf den stählernen Gleisen etwa zwischen Aachen und Köln und Duisburg - kann Nießen dies nie beweisen. Und einer trickreichen Simulation allein am Computerbildschirm mögen Eisenbahner nicht trauen. Da könnte ja jeder tricksen, und schließlich geht es um Leben und Tod. "Die Bahn ist ein sehr konservatives Metier, mit viel Tradition", sagt Nießen nachdenklich. Der Professor lächelt, sein Blick fällt auf die Gleise der ELVA: "Diese Anlage ist die wichtige, weil anschauliche Brücke zwischen Theorie und Praxis."
Die Tests auf der schmucklosen Kellerstrecke könnten Pendlern das Leben erleichtern
Dabei hilft, dass sich die Aachener Wissenschaftler mit einem kleinen Trick ihre Großanlage noch größer gerechnet haben. Die 1200 Meter langen Schienen im Maßstab H0 (also 1:87) werden vom Rechner gestreckt. So wächst das ELVA-Netz auf mehr als 100 Kilometer Länge an.
Institutschef Nießen und seine Kollegen wollen per Analytik errechnen, wann und wie sich die Auslastung eines realen Schienennetzes optimieren lässt. Theoretisch ist es möglich, auf vielen heute überlasteten Strecken durch kürzere Blockabschnitte und mittels modernster Signaltechnik zum Beispiel zusätzliche S-Bahnen und Regionalzüge einzusetzen. Dann wiederum könnten mehr Pkw-Pendler von der Straße auf die Schiene umsteigen.
Was die Aachener Computer errechnen, wäre nicht gleich ein Paradies. Aber die Tests auf der schmucklosen Kellerstrecke zwischen M-Dorf und E-City könnten vonnun an einige Weichen stellen, um ab und an der Hölle von langen Staus und endlosen Verspätungen zu entkommen.